Topoi für das spätere Mittelalter
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hörte, zu Europa >gezählt< würden.^ Andere Autoren unterschieden dagegen
nicht einmal in dieser subtilen Weise, sondern integrierten die Inseln in eine
ununterbrochene Reihe der europäischen Provinzen.^
3.4. Die größten Herrscher Europas ...
Der Schritt von der zunächst einmal geographisch fixierten Grenze hin zu ei-
ner politischen Aufladung des Europa-Begriffs, so wie sie in der Forschung
vorrangig gesucht wurde und wird, führt zu einer Konzentration des Blicks
auf Wendungen und Zusammenhänge, die Europa zum Gegenstand herr-
schaftlicher Bestrebungen machten. Im Vergleich zu den zumindest gelegent-
lich aufscheinenden Passagen, die insbesondere in der Karolingerzeit und in
der Retrospektive auch danach noch vom mgimm Europa oder den regiM Ei/ro-
sprachen, mag die Befundlage für die Zeit ab dem späteren 11. Jahrhun-
dert zunächst wenig fruchtbar für diese Fragestellung wirken: Anscheinend
hielt die Vermehrung der Europa-Belege nicht Schritt mit der markanten Aus-
weitung der überlieferten und produzierten Schriftlichkeit. Bei genauerem
Hinsehen ist allerdings festzustellen, dass der erste Eindruck trügt und auch
der herrschaftsbezogene Einsatz des Europa-Begriffs weiterhin in den Quel-
len präsent blieb:
Während die Spitze der römisch-katholischen Kirche nach dem oben be-
schriebenen Zwischenspiel der Phase um 1100 nurmehr wenig mit dem
Europa-Begriff anfangen konnte, tradierten historiographische wie literari-
sche Texte das Motiv von der Beherrschung Europas durchaus weiter. Dabei
standen allerdings weniger Aspekte der Herrschertitulatur im Vordergrund,
als vielmehr Wendungen, in denen Europa zum >Resonanzraum< für den
Ruhm, aber auch für die Macht einzelner Herrscher avancierte: Im Sinne pa-
negyrischen Schreibens begegnen daher auch ab dem 11. Jahrhundert Verwei-
se auf den Ruhm eines Herrschers, der sich über ganz Europa verbeitet habe,
oder eben direkt die Behauptung einer Beherrschung des Erdteils. Die Be-
fundsituation stellt die moderne Interpretation allerdings vor grundlegende
Probleme: Zum einen stellt sich die Frage nach der Interpretation quantitati-
ver Häufungen. Deuten diese im Zusammenhang panegyrischer Wendungen
in erster Linie auf eine entsprechende Relevanz der jeweils angesprochenen
Größe hin, oder führen sie nicht vielmehr zur inhaltlichen Aushöhlung der nur
noch stereotyp angewandten Formel? Zum anderen bieten die jeweiligen Kon-
texte Anlass zur kritischen Nachfrage, wie gleich noch gezeigt werden soll.
98 Rodrigo Jimenez de Rada, Historia de rebus Hispanie, hg. Valverde 1987, S. 13 (13). Vgl. in
der volkssprachlichen Chronistik des späten 13. Jhs. dann Primera cronica general de Espana,
hg. Menendez Pidal -1978, S. 5.
99 So etwa Gervasius von Tilbury, Otia imperialia, hg. Banks/Binns 2002, S. 304-314 (II10), der
zudem im Abschnitt zu »Westeuropa« (Enropa oM&nfaüs) die Nordsee als wäre äoc noshMm
bezeichnet, s. ebd., S. 284 (III10). Im 14. Jh. formulierte Fazio degli Uberti, Uittamondo, hg. Cor-
si 1952, Bd. 1, S. 319 (IV 23, vv. 7-9): Eanfo e Eisoia grande, n'cca e Mia, / cäe uince EaEre cäe in
Enropa sono, / come /a ;7 soie ciascMn'ahra sfeiia.
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hörte, zu Europa >gezählt< würden.^ Andere Autoren unterschieden dagegen
nicht einmal in dieser subtilen Weise, sondern integrierten die Inseln in eine
ununterbrochene Reihe der europäischen Provinzen.^
3.4. Die größten Herrscher Europas ...
Der Schritt von der zunächst einmal geographisch fixierten Grenze hin zu ei-
ner politischen Aufladung des Europa-Begriffs, so wie sie in der Forschung
vorrangig gesucht wurde und wird, führt zu einer Konzentration des Blicks
auf Wendungen und Zusammenhänge, die Europa zum Gegenstand herr-
schaftlicher Bestrebungen machten. Im Vergleich zu den zumindest gelegent-
lich aufscheinenden Passagen, die insbesondere in der Karolingerzeit und in
der Retrospektive auch danach noch vom mgimm Europa oder den regiM Ei/ro-
sprachen, mag die Befundlage für die Zeit ab dem späteren 11. Jahrhun-
dert zunächst wenig fruchtbar für diese Fragestellung wirken: Anscheinend
hielt die Vermehrung der Europa-Belege nicht Schritt mit der markanten Aus-
weitung der überlieferten und produzierten Schriftlichkeit. Bei genauerem
Hinsehen ist allerdings festzustellen, dass der erste Eindruck trügt und auch
der herrschaftsbezogene Einsatz des Europa-Begriffs weiterhin in den Quel-
len präsent blieb:
Während die Spitze der römisch-katholischen Kirche nach dem oben be-
schriebenen Zwischenspiel der Phase um 1100 nurmehr wenig mit dem
Europa-Begriff anfangen konnte, tradierten historiographische wie literari-
sche Texte das Motiv von der Beherrschung Europas durchaus weiter. Dabei
standen allerdings weniger Aspekte der Herrschertitulatur im Vordergrund,
als vielmehr Wendungen, in denen Europa zum >Resonanzraum< für den
Ruhm, aber auch für die Macht einzelner Herrscher avancierte: Im Sinne pa-
negyrischen Schreibens begegnen daher auch ab dem 11. Jahrhundert Verwei-
se auf den Ruhm eines Herrschers, der sich über ganz Europa verbeitet habe,
oder eben direkt die Behauptung einer Beherrschung des Erdteils. Die Be-
fundsituation stellt die moderne Interpretation allerdings vor grundlegende
Probleme: Zum einen stellt sich die Frage nach der Interpretation quantitati-
ver Häufungen. Deuten diese im Zusammenhang panegyrischer Wendungen
in erster Linie auf eine entsprechende Relevanz der jeweils angesprochenen
Größe hin, oder führen sie nicht vielmehr zur inhaltlichen Aushöhlung der nur
noch stereotyp angewandten Formel? Zum anderen bieten die jeweiligen Kon-
texte Anlass zur kritischen Nachfrage, wie gleich noch gezeigt werden soll.
98 Rodrigo Jimenez de Rada, Historia de rebus Hispanie, hg. Valverde 1987, S. 13 (13). Vgl. in
der volkssprachlichen Chronistik des späten 13. Jhs. dann Primera cronica general de Espana,
hg. Menendez Pidal -1978, S. 5.
99 So etwa Gervasius von Tilbury, Otia imperialia, hg. Banks/Binns 2002, S. 304-314 (II10), der
zudem im Abschnitt zu »Westeuropa« (Enropa oM&nfaüs) die Nordsee als wäre äoc noshMm
bezeichnet, s. ebd., S. 284 (III10). Im 14. Jh. formulierte Fazio degli Uberti, Uittamondo, hg. Cor-
si 1952, Bd. 1, S. 319 (IV 23, vv. 7-9): Eanfo e Eisoia grande, n'cca e Mia, / cäe uince EaEre cäe in
Enropa sono, / come /a ;7 soie ciascMn'ahra sfeiia.