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Oschema, Klaus; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Bilder von Europa im Mittelalter — Mittelalter-Forschungen, Band 43: Ostfildern, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.34759#0515

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514

Kapitel XVII

2. Das mittelalterliche Europa für heute?

Weniger direkt - aber nicht weniger maßgeblich, so scheint mir - sind die Folgen
dieser Ergebnisse für moderne Bezugnahmen auf den Europa-Begriff: Im Sinne
eines >fernen Spiegels< können uns die Befunde meiner Arbeit vorführen, dass
die Frage nach einer Essenz des Begriffs (wenig überraschend) irreführend ist.
Damals wie heute existierten lediglich Bilder von Europa?, die aber durchaus
handlungsleitend werden konnten und damit sehr realen Charakter annahmen.
In ihrem Grunde blieben sie aber das Ergebnis kollektiver Sinnzuschreibungen,
denen kein >essentielles Wesen< zu entnehmen war und ist.
Für die mediävishsche Forschung dürfte der Nachweis einer durchaus nicht
geringen Präsenz solcher Europa-Bilder, so unauffällig sie in ihrer Mehrzahl
auch sein mögen, bedeuten, dass der Blick auf das mittelalterliche Europa nicht
mehr in der gewohnten Art von den Vorstellungen der Zeitgenossen abstra-
hieren kann, um mit modernen Kategorienbündeln Gesellschaften und Kultu-
ren als >europäisch< oder eben nicht zu beschreiben. Ein solcher Zugriff ist auch
für die Zukunft keineswegs ausgeschlossen, bedarf aber fürderhin noch klarer
einer überzeugenden Herleitung und Begründung, die über intuitive Zuschrei-
bungen hinausgeht. Bestimmte Phänomene in der rückwärtsgewandten Analyse
als >europäisch< zu deklarieren, bedeutet sonst nichts weiter, als eine unkritische
Fortsetzung des andauernden Prozesses der Bildkonstruktion und -Wandlung,
häufig genug im Sinne eurozentristischer Zugriffe.^
Etwas handfester sind die Konsequenzen hinsichtlich sprachlicher Gewohn-
heiten und liebgewordener Wendungen im Detail, die sich vor dem Hinter-
grund der präsentierten Analyse als ungenau bis unzutreffend herausstellen:
Wenn zuweilen von der »Verschiebung der Grenzen Europas« die Rede ist, so
birgt diese Formel in sich schon die Gefahr eines Kategorienfehlers, da sie die
Vorstellung von einer realen Einheit evozieren könnte, wo doch eigentlich kollek-

7 Die Berechtigung des Plurals konstatierte im Übrigen schon Barraclough 1964, S. 23: »Unsere
erste Beobachtung ist also, dass es keine einzige mittelalterliche Vorstellung von europäischer
Einheit gibt; es gibt deren eine Vielzahl, und sie sind nicht immer miteinander vereinbar.«
Vgl. auf der Grundlage eines knappen begriffs- und ideengeschichtlichen Überblicks auch
Tortarolo 1993, S. 33: »Es wurde jedoch klar, dass Europa nie eine eindeutig sinnstiftende Be-
deutung hatte: Der Begriff war vielmehr Worthülse ganz unterschiedlicher, oft widersprüchli-
cher Zielvorstellungen, Weltanschauungen und politischer oder wirtschaftlicher Programme.«
Dem entspricht im Hintergrund die Erfahrung eines durchaus vielseitig ausdifferenzierten
Substrats, dessen historisch-kulturelle Variabilität davor warnen sollte, allzu voreilig die
Existenz analytisch sinnvoller Großeinheiten zu postulieren, s. Spohn 2010, S. 71. In diesem
Sinne ist auch der Plural im Titel von Hersant/Durand-Bogaert (Hg.) 2000 angemessen. Die ak-
tuelle Konstruktion des Bildes von Europa als städtischer, christlicher Kontinent führen auf
der Basis der Weltkulturerbe-Stätten vor van Gorp/Renes 2007. Klärend zum Verhältnis von
gegenwärtiger Identität und historischer Prägung Veyne 2008, S. 140-152.
8 Vgl. die Kritik bei Blaut 2000. Entsprechende Darstellungen sind dann als Beitrag zum »Mythos
der Kontinente« zu verstehen, den Lewis/Wigen 1997 überzeugend kritisierten. Analytisch
nicht weiterführend erscheint mir an dieser Stelle Buruma/Margault 2004, wenngleich der Be-
griff des »Okzidentalismus« (vgl. auch Dietze 2010), oder im engeren Kontext meiner Arbeit
auch des >Europäismus< zahlreiche Ausprägungen des Verzeichnungsprozesses im histori-
schen Rückblick treffend fasst.
 
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