Europa in der Antike
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an einem vorgeblich »ursprünglichen« Sinngehalt versuchen, die legitime
Grundlage entzogen.^
Wichtiger noch als diese Konsequenz für den Rahmen moderner Spekulation
ist für mein Thema im engeren Sinne die Tatsache, dass in den Jahrhunderten
des Mittelalters die etymologische Herleitung des Europa-Namens offensicht-
lich kaum interessierte: Selbst ein Autor wie Isidor von Sevilla, der die Etymo-
logie zum Programm seiner enzyklopädischen Darstellung erhobt, versuchte
sich zu Europa an keiner Deutung, die über die Erklärung des Mythos von der
»phönizischen« Königstochter hinausgegangen wäreA Dasselbe galt bereits
im 2. Jahrhundert für Sextus Pompeius Festus in seinem »De verborum signi-
hcahone«, der schlicht notierte: Enropam ohhs p%rhm Europa, Aycnons
ccrhm; esf appcEan, um dann die bekannte Entführungsgeschichte in ratio-
nalisierender Manier folgen zu lassen.^ Diese Feststellung erstaunt umso mehr,
als das Phänomen nicht einfach mit einer Besonderheit der Kategorie >Erdteil-
Namen< zu begründen ist: Im Falle Afrikas kannten die mittelalterlichen Auto-
ren neben der Bezeichnung als E;&p% (nach einer gleichnamigen mythologi-
schen Figur) zwei Varianten, von denen eine auf die Benennung nach einem
A/A verwies, die andere auf die Herkunft des Wortes von %pnc%, womit die
11 Vgl. die heute schwülstig anmutenden Ausführungen von de Reynold 1944-1957, Bd. 1, S. 108:
»Nous avons la des composes de deux autres mots grecs: l'adjectif CMrMS, large, ample, spacieux; le
substantif ops, terme poetique pour l'oeil, regard et, par extension, face, visage. ZeMS CMrMope,
c'est Zeus qui voit au loin. EMrope, c'est une femme aux larges yeux, au beau regard, au beau
visage.« Insbesondere moderne Beiträge, die sich um eine aktualisierende Deutung des Mythos
bemühen, gleiten gerne in poetische Meditation ab, vgl. die Beiträge in Littlejohns/Soncini
(Hg.) 2007 und Acidini Luchinat/Capretti (Hg.) 2002, sowie Dietz 2003 und Passerini 2002;
s.a. Passerini 2003, S. 23: »Cadmos teaches us, Rougemont writes, that it is difficult to find
Europa/Europe and that it is only the search itself that will create it: >we will find Europe only
by making it anew<.« Für eine Kritik entsprechender Effekte im Rahmen von Lehrbüchern
für den Schulgebrauch s. Kotte 2007, hier S. 216.
12 Isidor von Sevilla, Etymologiae, hg. Lindsay 1911,129,2: Nam Mz'&n's orfMm esf no-
men, dÜMS M?'m ems üüdk'yis. Vgl. Szerwiniack 1992/1993, S. 43.
13 Isidor von Sevilla, Etymologiae, hg. Lindsay 1911, XIV 4,1: EMropa ptüppc Aycmon's regis
pEa foM/'s di A/h'cY? rapdm Crefam adMexif, d parfem ferham orE's ex ems nomine nppeEnnif.
S.a. ebd. (Benennung Libyens/Afrikas nach Libya, der Mutter Agenors) und XIV 3,41 (Benen-
nung Phrygiens nach Phrygia, der Tochter des Europs). Vgl. Lozovsky 2000, S. 108; zur abwan-
delnden Rezeption Isidors am Beispiel des »Liber de mundi institutione« (Ripoll, 10. Jh.),
s. Zimmerman 1977.
14 Sextus Pompeius Festus, De verborum significatione, hg. Lindsay 1913, S. 68; vgl. zur ratio-
nalisierenden Tendenz der Deutung Maier 1990, S. 8. Zumindest verwundert über die Be-
nennung der Erdteile nach drei Frauennamen zeigt sich Herodot, Historien, hg. Feix H988,
Bd. 1, S. 534-537 (IV 45), der sich mangels geeigneter Alternativen für die Herleitung von
der Tochter des Agenor entscheidet: »Von Europa aber weiß kein Mensch, ob es vom Ozean
umflossen oder wonach es benannt ist, auch nicht, wer ihm den Namen Europa gegeben hat,
wenn wir nicht annehmen wollen, daß von der Tyrierin Europa das Land den Namen be-
kommen hat. Vorher war es natürlich namenlos wie die anderen. Aber diese Europa stamm-
te offenbar aus Asien und ist nie in das Land gekommen, das man heute in Griechenland
Europa nennt. Sie ist nur von Phoinikien nach Kreta und von da aus nach Lykien gelangt.
Doch genug davon! Wir wollen beim allgemein üblichen Gebrauch bleiben.«
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an einem vorgeblich »ursprünglichen« Sinngehalt versuchen, die legitime
Grundlage entzogen.^
Wichtiger noch als diese Konsequenz für den Rahmen moderner Spekulation
ist für mein Thema im engeren Sinne die Tatsache, dass in den Jahrhunderten
des Mittelalters die etymologische Herleitung des Europa-Namens offensicht-
lich kaum interessierte: Selbst ein Autor wie Isidor von Sevilla, der die Etymo-
logie zum Programm seiner enzyklopädischen Darstellung erhobt, versuchte
sich zu Europa an keiner Deutung, die über die Erklärung des Mythos von der
»phönizischen« Königstochter hinausgegangen wäreA Dasselbe galt bereits
im 2. Jahrhundert für Sextus Pompeius Festus in seinem »De verborum signi-
hcahone«, der schlicht notierte: Enropam ohhs p%rhm Europa, Aycnons
ccrhm; esf appcEan, um dann die bekannte Entführungsgeschichte in ratio-
nalisierender Manier folgen zu lassen.^ Diese Feststellung erstaunt umso mehr,
als das Phänomen nicht einfach mit einer Besonderheit der Kategorie >Erdteil-
Namen< zu begründen ist: Im Falle Afrikas kannten die mittelalterlichen Auto-
ren neben der Bezeichnung als E;&p% (nach einer gleichnamigen mythologi-
schen Figur) zwei Varianten, von denen eine auf die Benennung nach einem
A/A verwies, die andere auf die Herkunft des Wortes von %pnc%, womit die
11 Vgl. die heute schwülstig anmutenden Ausführungen von de Reynold 1944-1957, Bd. 1, S. 108:
»Nous avons la des composes de deux autres mots grecs: l'adjectif CMrMS, large, ample, spacieux; le
substantif ops, terme poetique pour l'oeil, regard et, par extension, face, visage. ZeMS CMrMope,
c'est Zeus qui voit au loin. EMrope, c'est une femme aux larges yeux, au beau regard, au beau
visage.« Insbesondere moderne Beiträge, die sich um eine aktualisierende Deutung des Mythos
bemühen, gleiten gerne in poetische Meditation ab, vgl. die Beiträge in Littlejohns/Soncini
(Hg.) 2007 und Acidini Luchinat/Capretti (Hg.) 2002, sowie Dietz 2003 und Passerini 2002;
s.a. Passerini 2003, S. 23: »Cadmos teaches us, Rougemont writes, that it is difficult to find
Europa/Europe and that it is only the search itself that will create it: >we will find Europe only
by making it anew<.« Für eine Kritik entsprechender Effekte im Rahmen von Lehrbüchern
für den Schulgebrauch s. Kotte 2007, hier S. 216.
12 Isidor von Sevilla, Etymologiae, hg. Lindsay 1911,129,2: Nam Mz'&n's orfMm esf no-
men, dÜMS M?'m ems üüdk'yis. Vgl. Szerwiniack 1992/1993, S. 43.
13 Isidor von Sevilla, Etymologiae, hg. Lindsay 1911, XIV 4,1: EMropa ptüppc Aycmon's regis
pEa foM/'s di A/h'cY? rapdm Crefam adMexif, d parfem ferham orE's ex ems nomine nppeEnnif.
S.a. ebd. (Benennung Libyens/Afrikas nach Libya, der Mutter Agenors) und XIV 3,41 (Benen-
nung Phrygiens nach Phrygia, der Tochter des Europs). Vgl. Lozovsky 2000, S. 108; zur abwan-
delnden Rezeption Isidors am Beispiel des »Liber de mundi institutione« (Ripoll, 10. Jh.),
s. Zimmerman 1977.
14 Sextus Pompeius Festus, De verborum significatione, hg. Lindsay 1913, S. 68; vgl. zur ratio-
nalisierenden Tendenz der Deutung Maier 1990, S. 8. Zumindest verwundert über die Be-
nennung der Erdteile nach drei Frauennamen zeigt sich Herodot, Historien, hg. Feix H988,
Bd. 1, S. 534-537 (IV 45), der sich mangels geeigneter Alternativen für die Herleitung von
der Tochter des Agenor entscheidet: »Von Europa aber weiß kein Mensch, ob es vom Ozean
umflossen oder wonach es benannt ist, auch nicht, wer ihm den Namen Europa gegeben hat,
wenn wir nicht annehmen wollen, daß von der Tyrierin Europa das Land den Namen be-
kommen hat. Vorher war es natürlich namenlos wie die anderen. Aber diese Europa stamm-
te offenbar aus Asien und ist nie in das Land gekommen, das man heute in Griechenland
Europa nennt. Sie ist nur von Phoinikien nach Kreta und von da aus nach Lykien gelangt.
Doch genug davon! Wir wollen beim allgemein üblichen Gebrauch bleiben.«