DIE MEISSNER TIERGROSSPLASTIK
von
ERNST ZIMMERMANN
Die Geschichte der plastischen Tierdarstellung, die heute, wie jeder weiß,
der Kunstausstellungen besucht, in der Kunst einen so großen Raum
einnimmt, ist noch nicht geschrieben. Es gibt noch kein Buch in irgend einer
Sprache der Welt, das sich mit diesem Gegenstände eingehend und er-
schöpfend befaßt hat’>, und auch die allgemeinen Kunstgeschichten, die in
der letzten Zeit in so reicher Zahl erschienen sind, sind völlig achtlos an
ihm vorübergegangen. Selbst eine so reiche und ausgezeichnete Tierplastik,
wie die der griechisch-römischen Zeit, die niemand vergessen wird, der ein-
mal die vatikanischen Sammlungen besucht hat, hat bisher in dieser Be-
Ziehung noch kaum Beachtung gefunden. Der Mensch in seiner künst-
lerischen Durchbildung ist so der alleinige Inhalt der Geschichtsschreibung
der Plastik geblieben, wie er es auch so lange Zeit für diese Kunst selber
gewesen ist.
So ist es denn auch kein Wunder, daß die allgemeine Kunstgeschichte
bisher noch nicht die geringste Kenntnis von jener eigenartigen Tierplastik
genommen hat, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Sachsen
entstand, genauer gesagt in Meißen, in einem Stoffe, der bis dahin noch
kaum für einen plastischen gegolten hatte. Weiter kein Wunder, daß auch
ihr wichtigster Schöpfer, Kändler, der große Modelleur der Meißner Manu-
faktur, als Urheber dieser Tiergroßplastik in keinem allgemeineren Lehrbuch
der Kunstgeschichte bisher erwähnt worden ist. Und doch verdient diese
Plastik, mag sie auch nur in Porzellan erstanden sein und hier bei vielen, die
ihre ursprüngliche Verwendung nicht im Auge haben, für eine arge
Materialverirrung gelten, eine weit größere Beachtung, als ihr bisher zuteil
geworden ist. Stellt sie doch in der Tat die erste reicher und in großem
Maßstabe ausgebildete Tierplastik dar, die seit der griechisch-römischen
Zeit entstanden ist, die erste, die in dieser Weise in der Ära der christ-
lichen Kunst das Tier wieder aus freien Stücken, um seiner selbst willen,
aus Freude an seiner Form, an seiner Bewegung in den verschiedensten
Beispielen gebildet hat, nicht bloß, wie es bis dahin fast immer geschah, weil
es bei einem menschlichen Vorwurf der unzertrennliche Begleiter desselben
zu sein pflegte. Stellt sie doch auch weiter in einer Zeit der größten Ab-
hängigkeit von fremden Vorbildern eine freie Tat der deutschen Kunst
Das einzige Werk, das sich bisher mit diesem Thema befaßt hat, ist das von R.
Piper, Das Tier in der Kunst, München 1910, das freilich über eine rein oberflächliche Be-
handlung desselben noch nicht hinausgekommen ist.
92
von
ERNST ZIMMERMANN
Die Geschichte der plastischen Tierdarstellung, die heute, wie jeder weiß,
der Kunstausstellungen besucht, in der Kunst einen so großen Raum
einnimmt, ist noch nicht geschrieben. Es gibt noch kein Buch in irgend einer
Sprache der Welt, das sich mit diesem Gegenstände eingehend und er-
schöpfend befaßt hat’>, und auch die allgemeinen Kunstgeschichten, die in
der letzten Zeit in so reicher Zahl erschienen sind, sind völlig achtlos an
ihm vorübergegangen. Selbst eine so reiche und ausgezeichnete Tierplastik,
wie die der griechisch-römischen Zeit, die niemand vergessen wird, der ein-
mal die vatikanischen Sammlungen besucht hat, hat bisher in dieser Be-
Ziehung noch kaum Beachtung gefunden. Der Mensch in seiner künst-
lerischen Durchbildung ist so der alleinige Inhalt der Geschichtsschreibung
der Plastik geblieben, wie er es auch so lange Zeit für diese Kunst selber
gewesen ist.
So ist es denn auch kein Wunder, daß die allgemeine Kunstgeschichte
bisher noch nicht die geringste Kenntnis von jener eigenartigen Tierplastik
genommen hat, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Sachsen
entstand, genauer gesagt in Meißen, in einem Stoffe, der bis dahin noch
kaum für einen plastischen gegolten hatte. Weiter kein Wunder, daß auch
ihr wichtigster Schöpfer, Kändler, der große Modelleur der Meißner Manu-
faktur, als Urheber dieser Tiergroßplastik in keinem allgemeineren Lehrbuch
der Kunstgeschichte bisher erwähnt worden ist. Und doch verdient diese
Plastik, mag sie auch nur in Porzellan erstanden sein und hier bei vielen, die
ihre ursprüngliche Verwendung nicht im Auge haben, für eine arge
Materialverirrung gelten, eine weit größere Beachtung, als ihr bisher zuteil
geworden ist. Stellt sie doch in der Tat die erste reicher und in großem
Maßstabe ausgebildete Tierplastik dar, die seit der griechisch-römischen
Zeit entstanden ist, die erste, die in dieser Weise in der Ära der christ-
lichen Kunst das Tier wieder aus freien Stücken, um seiner selbst willen,
aus Freude an seiner Form, an seiner Bewegung in den verschiedensten
Beispielen gebildet hat, nicht bloß, wie es bis dahin fast immer geschah, weil
es bei einem menschlichen Vorwurf der unzertrennliche Begleiter desselben
zu sein pflegte. Stellt sie doch auch weiter in einer Zeit der größten Ab-
hängigkeit von fremden Vorbildern eine freie Tat der deutschen Kunst
Das einzige Werk, das sich bisher mit diesem Thema befaßt hat, ist das von R.
Piper, Das Tier in der Kunst, München 1910, das freilich über eine rein oberflächliche Be-
handlung desselben noch nicht hinausgekommen ist.
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