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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 4.1911

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Diese glänzenden Vorzüge haften im besonderen
Maße Justis Beiträgen zur Erklärung der Werke
und des Menschen Michelangelo an, deren erste
Serie im Jubeljahre 1900 erschienen ist. Sie
wirkten damals wie eine Offenbarung; und auch
heute noch, nach längerer Pause der Aufnahme
und Verarbeitung, bestehen ihr Wert und ihr Reiz
unvermindert fort. Und dabei enthalten sie nur
zwei Abhandlungen, freilich über zwei der größten
Schöpfungen Michelagniolos, Sixtina und Julius-
grab; denn in meisterhafter und mustergültiger
Weise ist in ihnen der Versuch unternommen
(und relativ auch durchgeführt) worden, vermit-
telst einer eindringlichen, ebenso feinsinnigen wie
formvollendeten Analyse, den künstlerischen Ge-
halt, Sinn und Bedeutung dieser Darstellungen
herauszuheben, vor allem darzutun, wie diese in
unmittelbarer und unlöslicher Wechselbeziehung
zum Mensehen selbst, als Ausdruck seiner eigen-
sten inneren Erlebnisse aufzufassen seien, und
wie die Kämpfe und Leiden, die inneren Kon-
flikte, Sym- und Antipathien des Künstlers Wesen
und Gang seiner Tätigkeit, bald glücklich bald
verhängnisvoll, beeinflußt haben.
Auch in den „neuen" Beiträgen zur Erklärung
der Werke Michelagniolos, die anno 1909 er-
schienen sind, und die wir hier zwar verspätet,
aber nicht zu spät anzeigen, verfährt Carl Justi
nach diesen Gesichtspunkten. Der Verfasser mochte
den fragmentarischen Charakter jener ersten Arbeit,
ihre Ergänzungsbedürftigkeit selbst fühlen. Six-
tina und Juliusdenkmal, so sehr sie im Mittel-
punkte von Michelagniolos künstlerischem Schaffen
stehen, wie sie die Ausgangspunkte für die spätere
Entwicklung und Tätigkeit des Meisters bilden,
erscheinen ihrerseits bereits als Ergebnisse eines
längeren, inneren wie äußeren Gestaltungspro-
zesses, ohne dessen Darlegung jene doch nicht
vollkommen verständlich sein würden. Die Ge-
schichten wie Einzelfiguren der Sixtina z. B. haben
ihre ganz bestimmten Vorstufen im Oeuvre Michel-
agniolos und nicht bloß in formaler Beziehung.
Diese, ich möchte sagen, ikonographisch-stilistische
Entwicklung des Meisters, deren Analyse haupt-
sächlich vermittelst seiner Handzeichnungen und
Entwürfe zu führen ist, gehört zu den interessan-
testen und wichtigsten Problemen der neueren
Forschung. So setzt Justi nunmehr jenen beiden
Abhandlungen die ganze Jugendgeschichte Michel-
agniolos voran und läßt auf sie von den späteren
Arbeiten seit dem Regierungsantritte Leos X. eine
Auswahl, nämlich die Denkmäler von San Lorenzo
und das Weltgericht nebst einigen anderen in
diesen Zusammenhang gehörigen Stücken folgen.

Wie die erste Serie ferner ein Kapitel allgemei-
neren Inhaltes über Michelagniolos technisches
Verfahren, seine Grundsätze und bildnerischen
Gepflogenheiten beschließt, so endet die zweite
Serie dieser Beiträge mit einer größeren Abhand-
lung über den „Menschen und Künstler", in wel-
cher nach bestimmten Kategorien wie: Terribile,
Temperament, Amatore divinissimo (nach Varchis
Elogium), Genie, Antinomismus,Idealismus, Porträt,
Einheit und Mannigfaltigkeit, Komposition, Kolle-
gialität, die Frau in der Kunst, die Madonna,
Kirche und Antike — Person und Schaffen Michel-
agniolos charakterisiert werden.
Gewiß, weit schärfer wie die Zeitgenossen des
Künstlers und die meisten seiner späteren Bio-
graphen ist es Justi gelungen, in das Innen-
leben dieses seltenen Mannes zu blicken und es
dem Verständnisse näher zu bringen. Wenn
gleichwohl diese Skizzen nicht die Befriedigung
und Zustimmung zu finden vermögen wie jene
beiden ersten Abhandlungen, so liegt das vor-
nehmlich an der Art ihrer Entstehung und
Fassung.
Die Idee des Verfassers war eine „freie Dis-
kussion der einzelnen Werke, ungeniert durch die
übliche Einschaltung in die Erzählung seiner
Lebensgeschichte." Und der Verfasser konnte
diesen Gedanken hegen, grade weil die biographi-
schen Erzählungen, die, zumeist im Anschlusse
an Vasari oder an Vasari und Condivi, seit Michel-
agniolos Tode nicht versiegt sind, das Verständnis
seiner Schöpfungen eher behindert denn gefördert
und ein höchst einseitiges, mit der Wirklichkeit
wenig harmonierendes Bild seiner Persönlichkeit
geschaffen haben. Sixtina und Juliusdenkmal bieten
aber in ihrer Totalität wie ihrer Entstehung nach
die relativ beste Handhabe, den künstlerischen wie
psychologischen Gehalt, frei von biographischem
Ballaste wie von all den Legenden und Schlag-
wörtern, die sich im Laufe der Zeit über den
Menschen wie Künstler verdichtet haben, zu ana-
lysieren. Daher die Prädilektion des Verfassers
gerade für diese beiden Stoffe. Daher die sichere
und ursprüngliche, ich möchte fast sagen, mit
jugendlichem Schwünge und Siegesgewißheit durch-
geführte Behandlung. Daher endlich der glänzende
Erfolg dieses ersten Buches mit seiner Fülle hand-
greiflicher Wahrheiten, die aussprechen was Un-
zählige schon gefühlt, geahnt, gedacht, aber —
nicht gesagt haben; die einmal produziert, sofort,
ohne sonderlich viel Kritik, Allgemeinbesitz ge-
worden sind — die alte Geschichte vom Ei des
Kolumbus.
Aber diese Justi eigentümliche, im besten Sinne

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