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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 4.1911

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des Wortes essayistische Betrachtungsmethode ist,
soll der Gewinn über das literarische und Unter-
haltungsinteresse hinaus, ein unbestechlicher und
unvergänglicher sein, generell nicht ohne weiteres
anwendbar, besonders nicht auf Michelagniolos
Jugend- und Altersentwicklung, wo sich überall
die biographischen Momente und Tatsachen ein-
drängen. Und ist denn, so frage ich, die Lebens-
geschichte dieses Künstlers wirklich so genau be-
kannt, so feststehend, daß von ihr abgesehen
werden könnte? Bringen nicht jede eindringlichere,
schlichte, vom hohen Stile der Diktion wie der
Gefühle freie Beschäftigung mit dem Leben Michel-
agniolos, jede festere Quellenkritik, chronologische
Untersuchungen, Analysen seiner Handzeichnungen,
die eine Hauptquelle der Biographik, nicht nur in
diesem Falle, sind, usw. eine Fülle bedeutsamer
Tatsachen zum Vorschein, die unsere Vorstellungen
bereichern, vertiefen, klären, scheinbar alte und
sichere Wahrheiten zu revidieren, zu korrigieren
und zu nüanzieren zwingen? Und weiter, läßt
sich denn gerade Michelagniolo gleichsam unter
eine Glasglocke luftdicht verschließen und sezieren?
Daher fehlt auch Justis so anregenden Darlegungen
am letzten Ende das Zwingende. Der Eindruck des
Willkürlichen stellt sich schon in bezug auf die Aus-
wahl der Themata ein. Die obengenannten Kategorien
z. B. erschöpfen das Kapitel: Mensch und Künstler
bei weitem nicht. Das was ich ikonographisch-stilisti-
sche Entwicklung der Probleme, nach Gegenstand wie
Behandlung, nenne, die Schilderung der ungeheueren,
geistigen wie künstlerischen Arbeit des Meisters
in ihrer beständigen Wechselwirkung erscheint
doch zu wenig berücksichtigt; auch der Aufbau
eines Werkes, z. B. der Gräber von San Lorenzo,
aus den sie vorbereitenden echten Handzeichnungen,
ist vielfach zu vermissen. Eine ganze Reihe von
Arbeiten finden sich unter den Werken Michel-
agniolos behandelt, die auf diesen Namen keinen
Anspruch haben; und man erfährt nicht immer
Justis definitives Urteil darüber und die Gründe
für ihre Einreihung. Justi meint, nach dem Witze
des alten Hesiods sei die Hälfte besser als das
Ganze; daher die Auswahl. Das dürfte aber schon
als Witz nicht zutreffen. Und wenn er die Werke
ausläßt, bei denen das was er zu sagen hatte,
„weniger erheblich und vom geltenden abweichend
schien", so sage ich: Ein Mann von Justis Be-
deutung hat allemal das Recht auch Bekanntes
und scheinbar abgedroschene Wahrheiten zu
wiederholen. In seinem Munde lauten die Dinge
doch anders. Und ist denn andererseits alles, was
er gebracht, neu, erheblich und vom Geltenden
abweichend; gerade in der Jugend z. B.? Gilt

jenes Axiom auch von Michelagniolos Peterskuppel,
überhaupt von seiner architektonischen Tätigkeit,
die überaus stiefmütterlich bedacht erscheint? Doch
wozu Rekriminationen! Ein Carl Justi darf seinen
Stoff ausschneiden und verarbeiten, wie es ihm
gefällt. Meine Bemerkungen sollen ja nur das
Bedauern ausdrücken darüber, daß der verehrte
Gelehrte nicht das volle Leben Michelagniolos,
gleich seinem Velasquez, behandelt hat. Aber
nun wird auch die wachsende Unlust ver-
ständlich, von der Justi spricht, seine Skizzen, die
„vor der Sturmflut von Michelangelo-Publikationen"
niedergeschrieben worden sind, — er legt auf die
Konstatierung dieser zeitlichen Priorität Gewicht —
für den Druck zu adaptieren. Ist es wirklich nur
die Rücksichtnahme auf den mit Michelagniolo-
Erzählungen übersättigten Leserkreis, die ihm
dieses Gefühl bewirkt hat? Entspringt es nicht
im letzten Grunde einem gewissen Abflauen des
Interesses an dieser Materie (mit dem sehr wohl
der Gegendruck, den die Existenz von Manu-
skripten und einer gewissen, damit verbundenen
Summe von Arbeit auf einen Autor auszuüben
pflegt, verständlich ist), wie ihrer ganzen Anlage
und Fassung? Immerhin, danken wir Justi
für seine Gabe, so wie sie schließlich gestaltet
und veröffentlicht worden ist.
Das von Justi angewandte Prinzip, nämlich aus
der jeweiligen speziellen Veranlagung des Künst-
lers dessen Oeuvre zu erklären, war und ist sicher-
lich ein fruchtbares. Aber diese „Beiträge", nament-
lich die beiden ersten Abhandlungen, bewirkten
einen Strom von Entdeckungen und Enthüllungen
von Geheimnissen und Rätseln, von Deutungen
und Interpretationskünsten inbezug auf die Psyche
wie die Hauptwerke Michelagniolos, daß die Be-
schäftigung mit ihnen ziemlich verleidet, und die
ernste Arbeit der Forscher, die noch etwas posi-
tives zu sagen haben, erschwert wird. Eine Zu-
sammenstellung dieser Erklärungsversuche hetero-
genster Art ergibt das wunderlichste Bild, das
jedoch mehr die Züge der verschiedenen Verfasser
denn des Meisters, dem sie angedichtet werden,
trägt. Oft genug ohne genügende Vorbereitung,
ohne Kenntnis des Materiales, der geschichtlichen
wie persönlichen Voraussetzungen, auf allerlei zu-
fällige Ähnlichkeiten, Übereinstimmungen usw.
hin, werden Kartenhäuser errichtet, die mühelos
umzublasen sind. Zu diesen „Enthüllungen" ge-
hört die Schrift von H. Brockhaus: Michel-
angelo und die Medici-Kapelle. Aus gelegentlichen
Besprechungen, Aufzeichnungen und Vorträgen ist
das Büchel allmählich entstanden, das in 5 Ab-
schnitten auf 88 Seiten (exkl. die Beilagen im An-

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