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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 4.1911

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entbehrende Argument der Ausbildung Dossos in
Venedig ganz entgehen, während man doch gerade
mit Hülfe solch venezianischer Stilelemente Bilder
als Früharbeiten herausholen könnte, wie die heil.
Familie der kapitolinischen Galerie. Demzufolge
kann dieser Versuch der Gruppierung der zahl-
reichen Werke Dossos nur wenig befriedigen.
Hinterläßt also die stilkritische Behandlung des
Themas einen ebenso wenig günstigen Eindruck,
als die Art, wie das Historische angefaßt ist, so
verstimmt vollends die saloppe Manier in den
Einzelheiten. Ich führe ein paar Beispiele an.
Lancellotto erwähnt, wo er von der Aufstellung
der Immaculata Concezione („Kirchenväter", jetzt
in Dresden) spricht, daß die beiden Hauptfiguren
des oberen Stückes unvollendet wären, mit Rück-
sicht auf die noch diskutierte dogmatische Frage.
Ein Blick auf das Dresdener Bild beweist die
Richtigkeit der Angabe: das ganze obere Stück,
mit Ausnahme vielleicht der unteren Putten, trägt
späteren Charakter und ist nicht von Dosso ge-
malt. Dieser doch wahrlich nicht ganz gleich-
gültige Umstand wird vom Verf. übergangen. In
S. Maria del Carmine in Modena ist ein Altarbild
mit dem hl. Albertus, der den Dämon niedertritt;
wiederholt dem Dosso zugeschrieben. Verf. klassi-
fiziert das Bild als Werk der bolognesischen Schule
am Ende des XVI. Jahrhunderts. Die Aufstellung
im Jahre 1530 wird aber durch Lancellotto bezeugt,
und diesen Passus liest man auf derselben Seite,
auf der von dem Bild der Conception die Rede ist.
So wird man sich nicht wundern, wenn es von
IJngenauigkeiten und Flüchtigkeiten wimmelt. Der
Preis von 100 000 Zechinen für eine Altartafel von
Dosso Dossi, den Verf. von August III. gezahlt
werden läßt (S. 39), würde selbst heutzutage von
keinem Bild des Meisters erreicht werden: damals
kaufte man dafür die berühmten 100 Modeneser
Bilder. Wenn S. 55 von Vanozza, der Mutter der
Lucrezia Borgia, gesagt wird, sie sei längst vor
Dossos Geburt gestorben gewesen, so scheint Verf.
nie ein Buch über diese Dinge nachgeschlagen
zu haben: jene Frau ist erst 1518 gestorben. Die
Flüchtigkeit der Zitate spottet jeder Beschreibung;
man möge nur das Literaturverzeichnis am Schluß
und ein paar der Anmerkungen daraufhin ansehen.
Und soll die mehrmals vorkommende Bezeichnung
„Anonymus des Morelli" für den berühmten Senator
ein Witz sein, oder weiß Verf. wirklich nicht,
wen man als Anonymus bezeichnet?
So ist denn das Buch eine Enttäuschung auf
der ganzen Linie. Nicht eines der Probleme ist
durch den Verf. auch nur um einen Schritt voran-
gebracht worden. Georg Gronau.

LORD BALCARRES, The evolution
of Italian sculpture. London, John
Murray 1909.
Der Titel dieses umfangreichen vorzüglich aus-
gestatteten Buches erinnert unwillkürlich an die
Darstellungen, die wir von der griechischen Plastik
besitzen. Der Gang ihrer Entwicklung ist für uns
fast zum Typus einer künstlerischen Entwicklung
überhaupt geworden. Er hat etwas von dem na-
türlichen Rhythmus, von der ungestörten Gesetz-
mäßigkeit, die in allen Lebensäußerungen des
Griechentums, wo nicht wohnt, so doch von uns
gesucht wird. Aus primitivsten Kulturbedürfnissen
heraus entsteht eine Kunst, deren unbehilfliche
Formen dennoch bereits das Vorhandensein einer
ausgebildeten Kunst, der der alten orientalischen
Reiche, voraussetzt. Im Laufe von vier Jahrhun-
derten macht sie die erstaunlichste Entwicklung
durch, welche die Kunstgeschichte kennt und ge-
langt als erste zur Aufstellung und in einem Sinn
auch zur Bewältigung jener Probleme, die seither
für alle künftigen Zeiten bis zur Gegenwart die
eigentlichen Probleme der Skulptur geblieben sind.
Sie hat sie nicht nur für die Klassizisten, sondern
auch für die „Moderni" jeder Epoche ein für alle
mal formuliert. Kein Wunder, daß eine solche, auf
sich selbst beruhende, vollständige und lückenlose
Entwicklung seit Winckelmann immer wieder neue
Darstellungen gefunden hat, denen der Umstand
günstig war, daß die Geschichte der griechischen
Plastik bei der rudimentären Erhaltung der grie-
chischen Malerei lange für die Geschichte der
griechischen Kunst überhaupt gelten durfte.
Auch die moderne italienische Kunst bietet —:
nach den komplizierten historischen Verhältnissen
der mittelalterlichen Kunst — wieder das Bild
einer einheitlichen ca. fünf Jahrhunderte umspan-
nenden Entwicklung, die noch in ihrer letzten
Phase Früchte erntet, welche schon am Anfang
gesät wurden; die ebenfalls aus einem primitiven
Stadium zu einer Art von wissenschaftlichem Na-
turalismus gelangt, den der monumentale Idealis-
mus einer klassischen Epoche überwindet. Dieser
heroischen Zeit folgt naturgemäß in den Zentren
(Rom, Florenz) eine Zwischenperiode des nach-
ahmenden Manierismus, in der sich aber bereits
an der Peripherie (Parma, Venedig, Neapel) der
illusionistische Stil vorbereitet, welcher ganz analog
der Antike die letzten zwei Jahrhunderte dieser
Evolution beherrscht. Trotzdem ist die Entwick-
lung der italienischen Kunst von der der griechi-
schen wesentlich verschieden und erinnert uns
so daran, daß es im historischen Geschehen niemals

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