MISZELLEN.
Zur Kenntnis der Malerschule von
Avignon um 1500. Werke eines Ano-
nymus in den Museen von Avignon und
Brüssel.
Mit vier Abbildungen auf zwei Tafeln.
Auf der Ausstellung der primitiven Franzosen
von 1904 erregte eine Darstellung des hl. Michael,
der den Drachen bekämpft, als eines der Haupt-
werke der avignonesischen Schule kurz nach 1500
lebhafte Diskussion. Wauters dachte wegen manchen
Bezüge zu dem Altar des Nicolas Froment in der
Aixer Kathedrale an diesen Meister, eine Attribution,
die im Katalog und dem von Bouchet herausge-
gebenen Ausstellungswerk als zu gewagt — mit
Recht — abgelehnt wurde. Weniger Beachtung
fand die auf der Rückseite des hl. Michael ge-
brachte Verkündigung, in der das italienische
Element, das in der eleganten, geschmeidigen
Michaelsgestalt nur eben andeutungsweise vorhan-
den ist, in voller Greifbarkeit hervortritt. Bereits
das Schema der Innenarchitektur atmet den Geist
der italienischen Klassik, freilich gemäßigt und
vereinfacht in der Verwendung der einzelnen Zier-
glieder; in der Farbe herrscht eine warme, stark
venezianisch berührende Tonalität, die am meisten
an die Nachfolge des Antonello da Messina erin-
nert; nur die Behandlung der Gewänder und die
Gestaltung der Typen verraten mit Sicherheit die
Nationalität des Künstlers.
Höchstwahrscheinlich haben wir es mit dem Frag-
ment eines größeren Ganzen zu tun, mit einer Altar-
tafel, zu der weitere Szenen des Marienlebens gesellt
waren. Die prägnanten Eigentümlichkeiten des Stiles
ließen mich in einem Bilde des Brüsseler Museums,
das dort ganz allgemein der italienischen Schule
zugewiesen ist, die Hand des avignonesischen
Meisters wiedererkennen; dazu kam der Gegen-
stand, die Verlobung Mariae, die ähnliche Kompo-
sitionsweise, Einzelheiten wie die Form des Nim-
bus der Maria und endlich das bis auf einen Zen-
timeter in der Höhe übereinstimmende Format
(80 X 59 cm in Avignon, 79 X 59 cm in Brüssel);
hiernach konnte kein Zweifel bleiben, daß diese
beiden räumlich soweit voneinander geschiedenen
Teile nicht nur von der gleichen Hand herrühren,
sondern zu dem gleichen größeren Ganzen ge-
hören.
Erst das Brüsseler Bild mit seiner reicheren Kompo-
sition erlaubt uns den Stil des Künstlers näher zu
charakterisieren. Der italienische Einfluß gibt sich
dabei noch unverhüllter als in der zugehörigen
Verkündigung zu erkennen; freilich ist von dem
Vorwiegen einer bestimmten Lokalschule schwer-
lich die Rede; venezianische Anklänge im Kolorit
verbinden sich mit einer auffallend flächigen, groß-
zügigen Behandlung der Gewänder, die an lom-
bardische Vorbilder denken laßt, insbesondere an
die Fresken des Gaudenzio Ferrari in S. Cristoforo
zu Vercelli, deren Stil manche Analogien bietet.
Die allgemeine Fortgeschrittenheit des Stiles in
Komposition und Perspektive gibt der Ansicht
Bouchots recht, der schon angesichts der Tafel
in Avignon die ehemalige Datierung vor 1500 ab-
lehnte und die Entstehungszeit dem Jahre 1520
näherte. Manche auffällig primitiven Züge er-
klären sich, wenn man bedenkt, daß die Provence
in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht damals
gegen Italien erheblich zurückstand; vieles, wie die
fast gesucht einfache Stilisierung der Gewänder,
ist allerdings eher bewußte Absicht des Künstlers
und entspricht damit der während des ganzen XV.
Jahrhunderts die proven^alische Malerei beherr-
schenden Tendenz zu rücksichtslos vereinfachter,
strenger Monumentalität.
Auf der Pariser Ausstellung von 1904 stand die
Verkündigung des Musee Calvet in ihrem stark
italienisierenden Charakter innerhalb der übrigens
provenqalischen Produktion ziemlich isoliert. Wie
mir scheint, darf zum stilistischen Vergleiche eine
Bilderserie herangezogen werden, die in der Samm-
lungjohnson zu Philadelphia aufbewahrt wird und
aus der ich die Darstellung der Pflege des hl. Se-
bastian nach dem Martyrium als Probe in Abbil-
dung beigegebe. Die Parallelen zwischen den
beiden europäischen Tafeln und dem Bilde in
Philadelphia in Komposition, Haltung, Typen, Ge-
wandmotiven, Zeichnung der Hände, ferner in der
Architektur und den Akzessorien sind so schlagend,
daß die Frage des Verhältnisses dieser Bilder zu-
einander wohl gestellt werden darf. Sie mit der
Sicherheit zu beantworten, mit der es möglich
war die Bilder in Brüssel und Avignon zueinander
zu fügen, kann nur nach Autopsie der amerikani-
schen Tafeln gelingen. Erwähnen möchte ich,
daß Wilhelm Valentiner, der die Sammlung John-
son eingehend studiert hat und dem ich die Photo-
graphie des Sebastianbildes verdanke, bereits den
südfranzösischen Ursprung betont hat. Auch hier
machen sich die italienischen Einschläge neben
echt französischen Zügen (im Gesichtsausdruck,
Haltung, Gebärdensprache) entscheidend bemerk-
bar; wieder darf man an oberitalienische Malereien
wie die obengenannten in Vercelli erinnern. In
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Zur Kenntnis der Malerschule von
Avignon um 1500. Werke eines Ano-
nymus in den Museen von Avignon und
Brüssel.
Mit vier Abbildungen auf zwei Tafeln.
Auf der Ausstellung der primitiven Franzosen
von 1904 erregte eine Darstellung des hl. Michael,
der den Drachen bekämpft, als eines der Haupt-
werke der avignonesischen Schule kurz nach 1500
lebhafte Diskussion. Wauters dachte wegen manchen
Bezüge zu dem Altar des Nicolas Froment in der
Aixer Kathedrale an diesen Meister, eine Attribution,
die im Katalog und dem von Bouchet herausge-
gebenen Ausstellungswerk als zu gewagt — mit
Recht — abgelehnt wurde. Weniger Beachtung
fand die auf der Rückseite des hl. Michael ge-
brachte Verkündigung, in der das italienische
Element, das in der eleganten, geschmeidigen
Michaelsgestalt nur eben andeutungsweise vorhan-
den ist, in voller Greifbarkeit hervortritt. Bereits
das Schema der Innenarchitektur atmet den Geist
der italienischen Klassik, freilich gemäßigt und
vereinfacht in der Verwendung der einzelnen Zier-
glieder; in der Farbe herrscht eine warme, stark
venezianisch berührende Tonalität, die am meisten
an die Nachfolge des Antonello da Messina erin-
nert; nur die Behandlung der Gewänder und die
Gestaltung der Typen verraten mit Sicherheit die
Nationalität des Künstlers.
Höchstwahrscheinlich haben wir es mit dem Frag-
ment eines größeren Ganzen zu tun, mit einer Altar-
tafel, zu der weitere Szenen des Marienlebens gesellt
waren. Die prägnanten Eigentümlichkeiten des Stiles
ließen mich in einem Bilde des Brüsseler Museums,
das dort ganz allgemein der italienischen Schule
zugewiesen ist, die Hand des avignonesischen
Meisters wiedererkennen; dazu kam der Gegen-
stand, die Verlobung Mariae, die ähnliche Kompo-
sitionsweise, Einzelheiten wie die Form des Nim-
bus der Maria und endlich das bis auf einen Zen-
timeter in der Höhe übereinstimmende Format
(80 X 59 cm in Avignon, 79 X 59 cm in Brüssel);
hiernach konnte kein Zweifel bleiben, daß diese
beiden räumlich soweit voneinander geschiedenen
Teile nicht nur von der gleichen Hand herrühren,
sondern zu dem gleichen größeren Ganzen ge-
hören.
Erst das Brüsseler Bild mit seiner reicheren Kompo-
sition erlaubt uns den Stil des Künstlers näher zu
charakterisieren. Der italienische Einfluß gibt sich
dabei noch unverhüllter als in der zugehörigen
Verkündigung zu erkennen; freilich ist von dem
Vorwiegen einer bestimmten Lokalschule schwer-
lich die Rede; venezianische Anklänge im Kolorit
verbinden sich mit einer auffallend flächigen, groß-
zügigen Behandlung der Gewänder, die an lom-
bardische Vorbilder denken laßt, insbesondere an
die Fresken des Gaudenzio Ferrari in S. Cristoforo
zu Vercelli, deren Stil manche Analogien bietet.
Die allgemeine Fortgeschrittenheit des Stiles in
Komposition und Perspektive gibt der Ansicht
Bouchots recht, der schon angesichts der Tafel
in Avignon die ehemalige Datierung vor 1500 ab-
lehnte und die Entstehungszeit dem Jahre 1520
näherte. Manche auffällig primitiven Züge er-
klären sich, wenn man bedenkt, daß die Provence
in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht damals
gegen Italien erheblich zurückstand; vieles, wie die
fast gesucht einfache Stilisierung der Gewänder,
ist allerdings eher bewußte Absicht des Künstlers
und entspricht damit der während des ganzen XV.
Jahrhunderts die proven^alische Malerei beherr-
schenden Tendenz zu rücksichtslos vereinfachter,
strenger Monumentalität.
Auf der Pariser Ausstellung von 1904 stand die
Verkündigung des Musee Calvet in ihrem stark
italienisierenden Charakter innerhalb der übrigens
provenqalischen Produktion ziemlich isoliert. Wie
mir scheint, darf zum stilistischen Vergleiche eine
Bilderserie herangezogen werden, die in der Samm-
lungjohnson zu Philadelphia aufbewahrt wird und
aus der ich die Darstellung der Pflege des hl. Se-
bastian nach dem Martyrium als Probe in Abbil-
dung beigegebe. Die Parallelen zwischen den
beiden europäischen Tafeln und dem Bilde in
Philadelphia in Komposition, Haltung, Typen, Ge-
wandmotiven, Zeichnung der Hände, ferner in der
Architektur und den Akzessorien sind so schlagend,
daß die Frage des Verhältnisses dieser Bilder zu-
einander wohl gestellt werden darf. Sie mit der
Sicherheit zu beantworten, mit der es möglich
war die Bilder in Brüssel und Avignon zueinander
zu fügen, kann nur nach Autopsie der amerikani-
schen Tafeln gelingen. Erwähnen möchte ich,
daß Wilhelm Valentiner, der die Sammlung John-
son eingehend studiert hat und dem ich die Photo-
graphie des Sebastianbildes verdanke, bereits den
südfranzösischen Ursprung betont hat. Auch hier
machen sich die italienischen Einschläge neben
echt französischen Zügen (im Gesichtsausdruck,
Haltung, Gebärdensprache) entscheidend bemerk-
bar; wieder darf man an oberitalienische Malereien
wie die obengenannten in Vercelli erinnern. In
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