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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 4.1911

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nungen anzusehen. Es handelt sich zwar nur um das dreimal skizzierte Figürchen
eines kauernden Jünglings mit einem aufgestemmten und einem herabhängenden
Bein, worunter die Bemerkung: „Mach einen kleinen von einem Finger Länge"
(d. h. ein Wachsmodell1)). Aber die Beziehung auf das Denkmal des Trivulzio, die
Müller-Walde nachgewiesen hat (Jahrb. der Pr. Kunstsammlungen XVIII) erscheint
mir gesichert. Dieses Denkmal kann jedoch frühestens Ende Mai 1507 (Lud-
wig XII. war am 24. Mai in Mailand eingezogen) in Auftrag gegeben sein, wobei
der König jedenfalls von dem Wunsche geleitet war, das immer mehr zerfallende
Pferdemodell des Sforzadenkmals zu retten. Mit dem „gewissen Werke", das Chau-
mont während eines dreimonatlichen Aufenthaltes des Künstlers in Mailand im,
Jahre 1506 hatte anfangen lassen und wofür am 18. August eine Urlaubsverlänge-
rung mindestens bis Ende September erbeten wird, kann wegen der Kürze der
Frist und der Bedeutung des Auftrags das Reiterdenkmal nicht gemeint sein, was
Siren S. 180 vermutet hat. So führt eine Erwägung aller Momente dazu, die Zeich-
nungen Leonardos auf dem genannten Skizzenblatte in die erste Hälfte des
Jahres 1507 zu verlegen, sodaß die um ein weniges früher fallende Schüler-
zeichnung nach dem Engel Leonardos noch in den Anfang des Jahres
1507 gesetzt werden kann.
Das von dem Schüler nachgezeichnete Vorbild befand sich jedoch nicht, wie
Müller-Walde annimmt, in Florenz, sondern in Mailand, weil dort die Skizze zum
Trivulziodenkmal gemacht sein muß. Leonardo hielt sich schon seit Anfang Juni
1506 in dieser Stadt auf. Auch die Erklärung, die der um die Leonardoforschung
so hochverdiente Gelehrte für die Respektierung des schwachen Schülerwerkes
durch den Meister angibt („offenbar hatte die Zeichnung für ihn damals noch
aktuellen Wert", XIX. 233), ist abzulehnen, denn jede Kopie, geschweige denn eine
so geringe, ist wertlos für den Schöpfer des noch vorhandenen Originals. Ich
wage die Vermutung, daß ein junger Mailänder Schüler, der dem Meister besonders
lieb war — vielleicht war es gar der vierzehnjährige Melzi, von dem wir aus dem
Jahre 1510 einen trefflich nach einer Büste Leonardos gezeichneten Männerkopf
(in der Ambrosiana) besitzen — hier einen seiner ersten Zeichenversuche gemacht
hatte2).
Auffällig erscheint, daß ein so tief schürfender und gelehrter Forscher, wie unser
Müller-Walde es ist, sich 1898 nicht der Notiz des Vasari über den Engel er-
innerte, als er obige Schülerzeichnung publizierte. Andernfalls hätte er sicherlich
damals schon den richtigen Tatbestand aufgedeckt und auch der zweiten von ihm
damals veröffentlichten Zeichnung — dem linken Vorderarm eines Jüng-
lings in der Akademie zu Venedig — einen weiteren Grund entnommen, die von
ihm als erste Redaktion des Johannesbildes bezeichnete Komposition als „Engel" zu
benennen (s. Abb. 4).
Wenn wir diese Zeichnung3) betrachten, die ebenfalls nur einem Schüler ange-

(1) Fanne • vnpicholo di cera lungho vndito. S. Abb. 3.

(2) Die „vielen" Briefe, die der Meister nach eigener Aussage vom September 1507 bis April 1508
aus Florenz an Francesco Melzi gerichtet hat (vgl. Seidlitz, II. 118) offenbaren, wie wert ihm der Knabe
in Mailand schon geworden war.

(3) Müller-Walde, Jahrb. XIX. 239 und v. Seidlitz, II. 127 nahmen an, daß Leonardo hier eine Schüler-
zeichnung im Umriß nachgezogen habe. Nach genauer Prüfung des Originals muß ich sagen, daß
gerade die Umrisse so plump und unsicher sind, daß sie dem Meister nicht angehören können. Wir
besitzen hier nur eine der so oft vorkommenden Nachzeichnungen einer Originalstudie durch Schüler-
hände, wofür auch die mitkopierte Strichlage der Schraffierung zeugt.

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