hören kann (s. Abb. 4), so sehen wir, daß sich hinter dem Ellbogen ein aus dünnem
Stoff bestehender Ärmel zu einem kreisförmigen Faltenwulst zusammenschiebt und
auf den zwei eingebogenen Fingern Falten eines deutlich als Musselin charakteri-
sierten Gewandes liegen. Wäre das Urbild dieser Zeichnung für einen Johannes
entworfen, so würden wir nicht dieses für den Bußprediger so unpassende Kleid,
sondern das traditionelle Tierfell, das uns ja tatsächlich auf der bekannten Kopie
bei Mr. Waters begegnet, angedeutet finden.
Noch ein weiterer Umstand scheint mir darauf hinzuweisen, daß nicht ein Jo-
hannesbild, sondern ein Engel der ursprüngliche Gegenstand der Komposition
war. Die linke Seite hat in dem Bilde bei Mr. Waters durch den leicht geneigten
Kopf und die emporragende Hand ein so starkes Übergewicht bekommen, daß wir
auf der rechten Seite, auf der das Kreuz fehlt, etwas vermissen. An dieser Stelle
erblicken wir auf der Skizze des Schülers einen stattlichen Flügel, durch den das
Gleichgewicht der Komposition wieder hergestellt wird und der als Zutat des Ko-
pisten nicht gelten kann.
So darf denn als bisheriges Resultat der Untersuchung wohl gelten, daß im
Anfang des jahres 1507 von Leonardo die Komposition eines Engels, wie
ihn Vasari schildert, in Mailand vorhanden war. Es scheint jedoch damals nur
ein Karton vorgelegen zu haben. Zu dieser Überzeugung drängt ein Blick auf
das vielseitige Schaffen des Meisters in den vorhergehenden Jahren und die durch
den Karmeliter Pietro da Nuvolaria im April 1501 bezeugte Abneigung Leonardos
vor der zeitraubenden Malarbeit. Deshalb konnten auch die liebenswürdigsten
Bitten der Markgräfin von Mantua um ein gemaltes Bildchen vom 27. März 1501 bis
zum 12. Mai 1506 nichts anderes vom Meister erlangen, als freundliche Versprechungen.
Da aber für den Juli 1509 schon die Skizze zu der über die Brust hinweggestreck-
ten rechten Hand des Täufers im Louvre von Müller-Walde (Jahrb. der Pr. Kunst-
sammlungen, XIX. 225 ff.) nachgewiesen ist1), so wäre dies der äußerste Termin
für die Beendigung des Engels als Gemälde.
Wo aber war der um 1825 in Florenz aufgefundene und nach Rußland
verkaufte Engel — angeblich das von Vasari beschriebene Original Leonardos —
geblieben? Am nächsten lag die Vermutung, das Bild befinde sich noch in einer
privaten oder öffentlichen Sammlung Rußlands. Als ich mir für verschiedene Fest-
stellungen den von A. Somof herausgegebenen Katalog der Kaiserl. Gemälde-
galerie der Eremitage schicken ließ, fand ich in dem Band der italienischen
und spanischen Bilder (S. 143 der französischen Ausgabe, Petersburg 1909) unter
Nr. 1637 den leibhaftigen Engel des Fineschi. Die Flügel werden Zutat eines
Restaurators genannt und das Bild „eine alte Kopie nach Leonardos Johannes-
bild im Louvre"(!). Fürst A. Galitzine war jener geheimnisvolle signor russo,
der von dem Zeichenlehrer Luigi Fineschi in Florenz bald nach 1831 das Bild
kaufte. Es wurde dann als Original Leonardos im Museum Galitzine zu Moskau
aufbewahrt, bis 1886 Kaiser Alexander III. die ganze Sammlung erwarb und das
Bild der Eremitage überwies. 1888 wurde es von Holz auf Leinwand übertragen.
Es ist 066.5 X 47-5 cm groß (das Louvrebild 69 X 57 cm).
Der Güte des Herrn Baron Ernst v. Liphart, I. Konservators der Galerie, ver-
danke ich außer wertvollen Bemerkungen zwei Photographien des Bildes, die aber
(1) Ich sehe diese in Kreide leicht hingeworfene und durch Qualität nicht hervorragende Zeichnung
des Cod. Atl., 1795 die ich durch die Güte des Mons. Dr. Ratti im Original nachprüfen konnte, als
von Leonardo herrührend an. Ebenso die direkt mit der Feder aufgerissene linke Hand des Engels,
C. A. fol. 146 v, die bei ihrer Flüchtigkeit doch manche Feinheiten aufweist.
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Stoff bestehender Ärmel zu einem kreisförmigen Faltenwulst zusammenschiebt und
auf den zwei eingebogenen Fingern Falten eines deutlich als Musselin charakteri-
sierten Gewandes liegen. Wäre das Urbild dieser Zeichnung für einen Johannes
entworfen, so würden wir nicht dieses für den Bußprediger so unpassende Kleid,
sondern das traditionelle Tierfell, das uns ja tatsächlich auf der bekannten Kopie
bei Mr. Waters begegnet, angedeutet finden.
Noch ein weiterer Umstand scheint mir darauf hinzuweisen, daß nicht ein Jo-
hannesbild, sondern ein Engel der ursprüngliche Gegenstand der Komposition
war. Die linke Seite hat in dem Bilde bei Mr. Waters durch den leicht geneigten
Kopf und die emporragende Hand ein so starkes Übergewicht bekommen, daß wir
auf der rechten Seite, auf der das Kreuz fehlt, etwas vermissen. An dieser Stelle
erblicken wir auf der Skizze des Schülers einen stattlichen Flügel, durch den das
Gleichgewicht der Komposition wieder hergestellt wird und der als Zutat des Ko-
pisten nicht gelten kann.
So darf denn als bisheriges Resultat der Untersuchung wohl gelten, daß im
Anfang des jahres 1507 von Leonardo die Komposition eines Engels, wie
ihn Vasari schildert, in Mailand vorhanden war. Es scheint jedoch damals nur
ein Karton vorgelegen zu haben. Zu dieser Überzeugung drängt ein Blick auf
das vielseitige Schaffen des Meisters in den vorhergehenden Jahren und die durch
den Karmeliter Pietro da Nuvolaria im April 1501 bezeugte Abneigung Leonardos
vor der zeitraubenden Malarbeit. Deshalb konnten auch die liebenswürdigsten
Bitten der Markgräfin von Mantua um ein gemaltes Bildchen vom 27. März 1501 bis
zum 12. Mai 1506 nichts anderes vom Meister erlangen, als freundliche Versprechungen.
Da aber für den Juli 1509 schon die Skizze zu der über die Brust hinweggestreck-
ten rechten Hand des Täufers im Louvre von Müller-Walde (Jahrb. der Pr. Kunst-
sammlungen, XIX. 225 ff.) nachgewiesen ist1), so wäre dies der äußerste Termin
für die Beendigung des Engels als Gemälde.
Wo aber war der um 1825 in Florenz aufgefundene und nach Rußland
verkaufte Engel — angeblich das von Vasari beschriebene Original Leonardos —
geblieben? Am nächsten lag die Vermutung, das Bild befinde sich noch in einer
privaten oder öffentlichen Sammlung Rußlands. Als ich mir für verschiedene Fest-
stellungen den von A. Somof herausgegebenen Katalog der Kaiserl. Gemälde-
galerie der Eremitage schicken ließ, fand ich in dem Band der italienischen
und spanischen Bilder (S. 143 der französischen Ausgabe, Petersburg 1909) unter
Nr. 1637 den leibhaftigen Engel des Fineschi. Die Flügel werden Zutat eines
Restaurators genannt und das Bild „eine alte Kopie nach Leonardos Johannes-
bild im Louvre"(!). Fürst A. Galitzine war jener geheimnisvolle signor russo,
der von dem Zeichenlehrer Luigi Fineschi in Florenz bald nach 1831 das Bild
kaufte. Es wurde dann als Original Leonardos im Museum Galitzine zu Moskau
aufbewahrt, bis 1886 Kaiser Alexander III. die ganze Sammlung erwarb und das
Bild der Eremitage überwies. 1888 wurde es von Holz auf Leinwand übertragen.
Es ist 066.5 X 47-5 cm groß (das Louvrebild 69 X 57 cm).
Der Güte des Herrn Baron Ernst v. Liphart, I. Konservators der Galerie, ver-
danke ich außer wertvollen Bemerkungen zwei Photographien des Bildes, die aber
(1) Ich sehe diese in Kreide leicht hingeworfene und durch Qualität nicht hervorragende Zeichnung
des Cod. Atl., 1795 die ich durch die Güte des Mons. Dr. Ratti im Original nachprüfen konnte, als
von Leonardo herrührend an. Ebenso die direkt mit der Feder aufgerissene linke Hand des Engels,
C. A. fol. 146 v, die bei ihrer Flüchtigkeit doch manche Feinheiten aufweist.
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