Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Schwarzmaier, Hansmartin [Hrsg.]; Krüger, Jürgen [Hrsg.]; Krimm, Konrad [Hrsg.]
Das Mittelalterbild des 19. Jahrhunderts am Oberrhein — Oberrheinische Studien, Band 22: Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2004

DOI Artikel:
Michels, Ulrich: Das Mittelalterbild in der Musik des 19. Jahrhunderts am Oberrhein
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.52739#0250
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
166

ULRICH MICHELS

bannen. Es war vor allem Palestrina, der damals mit seiner fünfstimigen Missa Papae
Marcelli (1562/63) eben jenem Papst Marcellus und das Konzil davon überzeugen
konnte, daß Mehrstimmigkeit, sofern sie einen bestimmten würdevollen Stil nicht über-
schreitet, sehr wohl in der Kirche ihren Platz haben darf, wegen ihrer ergreifenden
Schönheit und ihrer läuternden Wirkung auf die Gläubigen. Seither kennt die Musikge-
schichte den Stildualismus von weltlichen Stil und Kirchenstil, letzterer auch Palestrina-
oder a-capella-Stil genannt. Genau hier setzt Thibaut mit seinen Überlegungen und sei-
nem Kampfe an, und der Begriff Reinheit im Titel seiner Schrift Über Reinheit der Ton-
kunst ist nicht physikalisch, sondern moralisch gemeint: Es geht um Stile, und auch in
diesem Sinne ist Reinheit moralisch gemeint.
Gleich das zweite Kapitel seiner Schrift widmet Thibaut daher dem Thema Über Kir-
chenmusik außer dem Choral. Mit kräftigen Pinselstrichen stellt er sogleich den Niveau-
unterschied dar, den er im Ohr und im Herzen hat, wenn er an den Gesang des Volkes und
an den seines Singkreises denkt: Das unverdorbene Volk hat Sinn für die Musik, wenn sie,
natürlich und gesund, dem reinen menschlichen Gefühl entspricht; und durch nichts kann
mehr auf das Volk gewirkt werden, als durch eine veredelte Musik. Laßt also, da die Ge-
meinden im ganzen nur zum Singen einfacher Choräle gebildet werden können, die höhe-
ren geistlichen Compositionen durch vollendete Sänger vortragen, damit gleichsam die En-
gel in der Kirche sichtbar werden, und die Gemeinde in Andacht etwas vernehme, was sie
selbst, der Menge, und der Schwäche wegen, zu schaffen außer Stande ist15 16.
Die christliche Kirche hatte die antike Sphärenharmonie umgedeutet in den Chorge-
sang der Engel im Himmel. Auf zahlreichen Bildern, besonders auch aus dem Mittelalter,
ist dieser Gesang der Engel dargestellt, so daß Thibaut mit seinem Vergleich etwas Be-
kanntes voraussetzen darf. Vielleicht gab es auch in der Boisseree’schen Sammlung solche
Darstellungen singender Engel. Der mehrstimmige Gesang wurde auch früher nie vom
Volk ausgeführt, sondern immer von einem Spezialchor, der capella, und dieser Chor war
meistens erhöht auf der Empore aufgestellt, so daß ihr Gesang für das Volk in der Kirche
durchaus »von oben« kam, die Symbolik eines Engelschors im Himmel also auch in der
Praxis nahe lag.
Als analytisch interessierter Mann betrachtet Thibaut so dann die Musik seiner Zeit
und stellt für jeden Bereich das Zutreffende fest. Thibaut macht drei Stile aus, wobei ihm
der mit den alten Meistern und dem mittelalterlich geprägten Gregorianischen Choral
verbundene Kirchenstil am meisten am Herzen liegt: Der kräftige Mensch, welcher sich
in der Kirche erbaut hat, wird also nachher mit ganzer Seele dieser Welt wieder angehören,
und wenn er geistige Genüsse sucht, entweder in weltlichem Ernst durch Philosophie und
Poesie sich für das Große zu bilden, oder der reinen Freude und Lebenslust die nöthige
Nahrung zu geben suchen. Auf diese Art entstehen dann für die Musik drei Style: der
Kirchenstyl, allein der Frömmigkeit gewidmet; der Oratoriensty l, welcher das
Große und Ernste auf menschliche Art geistreich nimmt; und der Op ernstyl, welcher
Alles, was von den Sinnen und der Leidenschaft ausgeht, durch poetische Darstellung ver-
gegenwärtigt15.

15 Ebd. S. 18.
16 Ebd. S. 22.
 
Annotationen