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II.

DARUM suchten wir — und fanden. Im Herbst
des Jahres 1895 führte man uns in die Werkstätte
eines in der Oeffentlichkeit noch nicht genannten
Künstlers, bei dem wir das, was wir ersehnten,
nicht nur in Versuchen, Andeutungen, Zeugnissen
eines guten Willens, sondern bereits zu fertigen,
einheitlichen Werken ausgereift entdeckten. Dieser
Künstler hiess Hermann Obrist, und was er uns
damals zeigte und heute in diesen Blättern zum
ersten Male der künstlerischen und kunstliebenden
Welt vorlegt, waren Stickereien. Von diesen will
ich besonders hier erzählen, denn die photo-
graphische Technik, so entwickelt sie auch sein,

und alsbald erwacht in seinem Inneren aus den
von der Natur gespendeten Eindrücken ein Motiv,
welches, sei es den Formen des Tierreiches oder
der Pflanzenwelt entsprungen, dem konstruktiven
Wesen des Gegenstandes entspricht. Und aus
diesem Einfalle entquillt die Erfindung, jenes geheim-
nisvolle Arbeiten der Einbildungskraft, welches
endlich zu einer geschlossenen, festgebildeten, dem
Zwecke entsprechenden Umdichtung der Naturform
führt. So steht die Form des Ornamentes zunächst
in der Seele des Künstlers aufgezeichnet als ein
Sinnbild der Natur und zugleich als ein Sinnbild
des schaffenden Geistes. — Ein koloristischer Ein-

und so vortreffliches sie zuweilen in ihren Re-
produktionen zu Wege bringen mag, ist doch
dem Glänze der Seide gegenüber noch machtlos.
Als der Künstler die Hüllen von den ringsum auf-
gestellten Werken nahm, erkannten wir bald, dass
das Problem von Stück zu Stück zu grösserer Voll-
kommenheit, Schönheit und Freiheit fortschreitend,
gelöst war. Hier fanden wir zum ersten Male
wieder die Flächen der Gebrauchsgegenstände mit
künstlerischen Gebilden geschmückt, die weder
alten Mustern nachgeahmt, noch von den Eng-
ländern, Franzosen, Japanern beeinflusst waren. —
„Nur drei Dinge giebt es für den schaffenden
Geist", so spricht Hermann Obrist: „Hier bin Ich,
da ist die Natur, dort der Gegenstand, den ich
verzieren soll." Der Künstler wandelt durch die
Natur, er sieht die Formen der Menschen, Tiere,
Pflanzen, er prägt sie sich ein in ihrer freien Har-
monie, in ihrer unwillkürlichen Ausdrucksfähigkeit.
Er tritt vor den Gegenstand, den er verzieren soll,

fall belebt dann plötzlich diese Formen, ein Farben-
traum ausstrahlend von der geheimen Sonne der
Seele, welche von der grossen Sonne des Firma-
mentes genährt wurde. Wir müssen beachten,
dass auch dieser, der koloristische Gedanke, bereits
unwillkürlich bedingt durch das Material, z. B. die
Seide, aus der freien Erfindung hervorgeht. Es
gilt nicht: Malereien in Stickereien zu übertragen,
es soll nicht „mit der Nadel gemalt" werden, denn
dies widerstreitet dem Wesen der Stickerei'. Das
Wesen der Stickerei ist, die Schönheit, den Charak-
ter des Materials an und für sich wirken zu lassen,
dieser aber ist bei der Seide nicht so sehr Farbe, als
Glanz. Der Künstler, welcher Entwürfe für Seide
ersinnt, muss Einfälle hervorbringen, welche allein
im Schimmer der Seide anderen Augen so wieder
erscheinen können, wie sie in der Seele des Schöpfers
schwebten. — Dem Glänze eines Stickereiteiles
verleiht Obrist daher seine Abstufungen, Licht und
Schatten, oft nicht durch Verwendung verschieden

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