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Die Scheideweg-Landschaft der Rhetoren
Quell ist klar und köstlich, auf seinem Gipfel wachsen immergrüne Bäume,
und er ragt hoch über die Wolken in eine reine ätherische Luft empor, die
die gar wenigen, in ewiger Glückseligkeit dort Wandelnden erquickt.1)
Es ist das Schicksal aller Gestalten, die nicht in einer mythisch-
anschaulichen, sondern in einer theoretisch-gedanklichen Sphäre erzeugt
worden sind, daß ihnen von Anfang an ein gewisser Mangel an innerer
Festigkeit eignet: sie bieten sich einerseits wilhg einer fortschreitenden
Allegorisierung und Differenzierung dar, und tragen andererseits ein
eigentümliches Verwandlungs- und Verlebendigungsstreben in sich, das
sie zur Assimilation an die konkreteren Gestalten der Geschichte oder des
Mythos treibt. So hat Julian Apostata gerade im Hinbhck auf unsere
Fabel ausdrückhch empfohlen, ,,an Stelle des Hercules den Namen eines
Perseus oder Theseus aufzugreifen“ und an Stelle der Xenophontischen
crxTjvoTcoda eine andere, ähnhche ,,auf das Theater zu bringen“.2) Zu einem
Austausch des Hercules gegen andere Figuren (es sei denn gegen das Ich
des Erzählers) scheint es nun zwar im Altertum nur selten gekommen zu
sein3); um so ausgiebiger aber hat man von der Möglichkeit Gebrauch ge-
macht, die beiden Frauengestalten sowohl durch andere zu ersetzen,
als mit weiteren zu umgeben. Der alte schlichte Gegensatz zwischen ’Apenf)
und Kaxta bzw. XpsTY) und TISovyj — denn diese ziemlich allgemein voll-
zogene Umbenennung4) bedeutet weniger eine Veränderung, als eine Prä-
zisierung, da die Bezeichnung HSovy] gleichsam den objektiven Tat-
bestand feststellt, den Xenophon durch die zwei Namen EüSoapuma und
Kocxta von zwei verschiedenen Seiten aus ethisch beleuchtet zeigt —
wird bald in einen Wettstreit zwischen „Legitimer Herrschaft“ und
„Tyrannis“5), bald in einen Wettstreit zwischen „Freundschaft“ und
1) Dieses Motiv schon bei Dio.
2) Julianus Imperator, Oratio VII, 217a (vgl. Alpers S. 33).
3) Die eine große Ausnahme, die Synkrisis des Silius Italicus, soll weiter unten,
zur Sprache kommen (vgl. S. 70ff.). In der modernen Literatur aber wimmelt es von
solchen beziehungsvollen Substitutionen.
4) Vgl. Alpers, S. 34ff. An der alten Bezeichnung Kaxtcc bzw. Kaxoz-gc scheinen im
Altertum außer Themistius nur die christlichen Autoren Justinus, Clemens
Alexandrinus und Basilius Magnus, sowie der unbekannte Rhetor Rhet. Graec.
(Walz) V, S. 606 und Philostrat in der „Vita Apollonii“ festgehalten zu haben. In der
späteren Literatur werden die Bezeichnungen „Laster“ und „Wollust“ („vizio“ und
„piacere“) so völlig synonym, daß sie in einer und derselben Dichtung miteinander ab-
wechseln können.
5) So Dio Chrysostomus. Infolge dieser Umbenennung hat Dio die sonst sehr
traditionsgetreue Erfindung in einem Punkte so stark modifizieren müssen, daß in das
Ganze ein eigentümlicher logischer Zwiespalt hineinkommt: bei ihm ist gerade der Weg
der legitimen Herrschaft der gemächlichere und sicherere, weil eben der legitime
Herrscher durch Erbschaft oder Volkswahl zur Macht gelangt, während der Tyrann sie nur
durch gewaltsamen Staatsstreich erringen kann.
Studien der Bibliothek Warburg 18. Heft: Panofsky
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Die Scheideweg-Landschaft der Rhetoren
Quell ist klar und köstlich, auf seinem Gipfel wachsen immergrüne Bäume,
und er ragt hoch über die Wolken in eine reine ätherische Luft empor, die
die gar wenigen, in ewiger Glückseligkeit dort Wandelnden erquickt.1)
Es ist das Schicksal aller Gestalten, die nicht in einer mythisch-
anschaulichen, sondern in einer theoretisch-gedanklichen Sphäre erzeugt
worden sind, daß ihnen von Anfang an ein gewisser Mangel an innerer
Festigkeit eignet: sie bieten sich einerseits wilhg einer fortschreitenden
Allegorisierung und Differenzierung dar, und tragen andererseits ein
eigentümliches Verwandlungs- und Verlebendigungsstreben in sich, das
sie zur Assimilation an die konkreteren Gestalten der Geschichte oder des
Mythos treibt. So hat Julian Apostata gerade im Hinbhck auf unsere
Fabel ausdrückhch empfohlen, ,,an Stelle des Hercules den Namen eines
Perseus oder Theseus aufzugreifen“ und an Stelle der Xenophontischen
crxTjvoTcoda eine andere, ähnhche ,,auf das Theater zu bringen“.2) Zu einem
Austausch des Hercules gegen andere Figuren (es sei denn gegen das Ich
des Erzählers) scheint es nun zwar im Altertum nur selten gekommen zu
sein3); um so ausgiebiger aber hat man von der Möglichkeit Gebrauch ge-
macht, die beiden Frauengestalten sowohl durch andere zu ersetzen,
als mit weiteren zu umgeben. Der alte schlichte Gegensatz zwischen ’Apenf)
und Kaxta bzw. XpsTY) und TISovyj — denn diese ziemlich allgemein voll-
zogene Umbenennung4) bedeutet weniger eine Veränderung, als eine Prä-
zisierung, da die Bezeichnung HSovy] gleichsam den objektiven Tat-
bestand feststellt, den Xenophon durch die zwei Namen EüSoapuma und
Kocxta von zwei verschiedenen Seiten aus ethisch beleuchtet zeigt —
wird bald in einen Wettstreit zwischen „Legitimer Herrschaft“ und
„Tyrannis“5), bald in einen Wettstreit zwischen „Freundschaft“ und
1) Dieses Motiv schon bei Dio.
2) Julianus Imperator, Oratio VII, 217a (vgl. Alpers S. 33).
3) Die eine große Ausnahme, die Synkrisis des Silius Italicus, soll weiter unten,
zur Sprache kommen (vgl. S. 70ff.). In der modernen Literatur aber wimmelt es von
solchen beziehungsvollen Substitutionen.
4) Vgl. Alpers, S. 34ff. An der alten Bezeichnung Kaxtcc bzw. Kaxoz-gc scheinen im
Altertum außer Themistius nur die christlichen Autoren Justinus, Clemens
Alexandrinus und Basilius Magnus, sowie der unbekannte Rhetor Rhet. Graec.
(Walz) V, S. 606 und Philostrat in der „Vita Apollonii“ festgehalten zu haben. In der
späteren Literatur werden die Bezeichnungen „Laster“ und „Wollust“ („vizio“ und
„piacere“) so völlig synonym, daß sie in einer und derselben Dichtung miteinander ab-
wechseln können.
5) So Dio Chrysostomus. Infolge dieser Umbenennung hat Dio die sonst sehr
traditionsgetreue Erfindung in einem Punkte so stark modifizieren müssen, daß in das
Ganze ein eigentümlicher logischer Zwiespalt hineinkommt: bei ihm ist gerade der Weg
der legitimen Herrschaft der gemächlichere und sicherere, weil eben der legitime
Herrscher durch Erbschaft oder Volkswahl zur Macht gelangt, während der Tyrann sie nur
durch gewaltsamen Staatsstreich erringen kann.
Studien der Bibliothek Warburg 18. Heft: Panofsky
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