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Hercules Prodicius

scher „Poeta Laureatus" aus einem römischen Dichter entwickelt hatte;
Raffael und Locher-,,Philomusus“ begegnen sich auf einem recht eigent-
lich „humanistischen" Boden, den freilich der nordische Geist mehr von
der Seite der Literatur, als von der Seite der Bildkunst her zu erobern
vermochte. In der Gestaltung der „Wollust“ aber hat sich Raffael
auch von Lochers Vorstellung losgesagt: durch ihren Blumenschmuck,
ihre Perlenketten, ihr lichtes Kleid, ihre schöngeflochtenen Haare und
ihren wehenden Kopfputz erscheint sie zwar äußerlich der reichge-
schmückten „Voluptas" der Texte verwandt, verwandter jedenfalls als
der nackten „Luxuria" des Holzschnitts — aber ihr inneres Wesen
weiß nichts von jener Aggressivität, geschweige denn von jener herri-
schen, zerstörerischen Dämonie, mit der sie Locher nicht weniger als
Silius ausgestattet hatte. Mit ihrem bescheiden dargebotenen Blümchen
erscheint sie als ein rührendes, demütig werbendes Mädchen, eher schüch-
tern als frech, und für den, der den Ausgang des Streites voraussieht, mehr
ein Gegenstand mitleidiger Sympathie, als verdammenden Abscheus.
Diese freundlichere Auffassung der „Voluptas"1) ist natürlich zunächst
im Kunstcharakter der umbrischen und umbrisierenden Schule im all-
gemeinen und im Kunst Charakter des jungen Raffael im besonderen be-
gründet (wie denn auch die „Wollust“ des in Abb. 52 wiedergegebenen
Florentiner Cassonebildes bei aller quattrocentistischen Zartheit mit
einem ganz anderen Selbstbewußtsein auftritt). Allein das schließt nicht
aus, daß Raffaels „Voluptas"-Figur, darüber hinaus, als Dokument oder
wenigstens als Ankündigung eines Gesinnungswandels betrachtet
werden darf, durch den sich die italienische Kunst sowohl zur Auffassung
des Nordens als auch zur Auffassung der Antike in einen gewissen Gegensatz
gestellt hat. Der Norden und die Antike, sie beide kommen bei aller Ver-
schiedenheit doch darin überein, daß sie die „Tugend"und das „Laster“ als
unversöhnliche Gegensätze auffassen, zwischen denen ein Ausgleich
nicht möglich ist. Demgegenüber gewinnen wir vor manchen südlichen
Darstellungen, und eben auch schon vor der Raffaelischen, den Eindruck
eines gewissen Relativismus: in demselben Maße, in dem die „Virtus“
sanfter wird, wird die „Voluptas" minder gefährlich, und in demselben
Maße, in dem die Versprechungen der „Tugend" mehr auf Erfolg und
Nachruhm als auf Bewahrung des Seelenheils gehen, entfallen die
furchtbaren Drohungen, die an die Wahl des Lasterwegs geknüpft

1) Auch die Farben der Gewänder zeigen den Silianischen Gegensatz von Unschulds-
weiß und Purpur zu einem Kontrast zwischen Ernst und Heiter abgemildert. „Virtus":
dunkelvioletter Mantel, rotgrünliches Untergewand, weißlila Kopftuch; „Voluptas":
kirschrotes Untergewand, lichtblauer Mantel, der vorne rosa changiert, gelbliche Haar-
binde. Die Blüten schneeweiß!
 
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