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172

Hercules Prodicius

Mit dieser Feststellung ist mehr gewonnen als die Erklärung eines
schwer verständlichen Kupferstichs: sie wirft ein helles Licht auf Dürers
Sonderstellung innerhalb der deutschen Renaissance.

Alle anderen Darstellungen unseres Themas gestalten, im Anschluß
an die Texte, die Synkrisis zwischen „Virtus“ und „Voluptas“ als einen
bloßen Redestreit, der sich im äußersten Fall zu einer Art Gewaltan-
wendung gegen Hercules verschärfen kann. Dürer dagegen erfaßt
die Szene als einen unmittelbaren Kampf der „Tugend“ gegen das
„Laster“, als eine echte „Psychomachie“. Was er dadurch gewonnen
hat, ist klar: indem er einerseits auf den mittelalterlichen Bildgedanken
der Psychomachie zurückgriff, andererseits aber für jedes Einzelmotiv
italienisch-antikische Vorbilder suchte, gelang es ihm, die naturhafte
Dynamik des renaissancemäßigen Körpergefühls in eine dra-
matische Kampfhandlung hineinzuleiten, die darzustellen gerade
jener Rückgriff ihm ermöglichte. Anstelle der zum Heroismus auf-
rufenden oder sogar nur zu einem tugendhaften Lebenswandel ermah-
nenden „Virtus“ gibt er die Kämpf erin, die selber zuschlägt, und deren
Zorn — trotz ihres damenhaft indignierten Gesichtsausdrucks — noch
immer etwas Griechisch-Mänadisches hat; anstelle der zur Wollust
lockenden „Voluptas“ gibt er die Sünderin, die selber Unzucht
treibt — mit einem Halbtier ihren Lüsten fröhnend, und wie ein
tödlich erschrockenes Wild von ihrer Verfolgerin aufgejagt. Dadurch
gewinnt die Auseinandersetzung zwischen „Virtus“ und „Voluptas“
trotz der bewußten, ja dem Anschein nach erklügelten Komposition
eine man möchte sagen: animalische Unmittelbarkeit, die selbst der
Barock nicht wieder erreicht hat. Dürer verwandelt die streitenden
Begriffs-Personifikationen in kämpfende Naturwesen1), und
es ist nur scheinbar paradox, wenn er, um diese Verwandlung durchzu-
führen, auf eine mittelalterliche und der Prodikos-Erzählung a priori

1) Es ist verständlich, wenn Altdorfer in seinem bekannten Berliner Bild sowie in
einer Albertina-Zeichnung (vgl. H. Tietze, A. Altdorfer, 1923, S. 51 ff.; zum Bilde auch
M. I. Friedländer, A. Altdorfer, 1923, S. 21) aus der Dürerschen Darstellung die Anregung
zu rein urwaldmäßigen Liebes- und Totschlagsszenen geschöpft hat. Daß jene beiden
Altdorferschen Darstellungen auch hinsichtlich des mythographischen Inhalts mit B. 73
zusammenhingen (so Tietze), ist kaum anzunehmen. Für die Zeichnung verbietet sich diese
Annahme schon dadurch, daß die bekleidete Frau fehlt und der zu der andern gehörige
Mann kein Satyr ist. Auf dem Bilde aber — auf das auch Dürers Kupferstich B. 69 ein-
gewirkt haben dürfte — ist kaum auszumachen, was der (nach Tietze blinde) „Angreifer",
der rechts im Hintergrund mit einer bekleideten Frau zusammengruppiert ist, mit dieser
eigentlich vorhat: nach Friedländers wahrscheinlich richtiger Meinung verfolgt er sie;
nach Tietze dagegen führt sie ihn heran. Wenn letzteres zuträfe, wäre der Inhalt des
Bildes mit dem des Dürerstichs vereinbar (die „Tugend" würde dann den Hercules zum
Kampf gegen das „Laster" heranführen); allein die Bewegung des Paares geht deutlich
bildauswärts nach rechts, während die Satyrfamilie links vorne lagert.
 
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