selben Masse Ton ein schönes und ein häßliches Gefäß formen kann. So
sagt es der Apostel im 9. Römerbrief.6 * * 68
Petrarcas Formulierung »ex eadem massa« impliziert also zugleich mit der
Frage nach den verschiedenen Begabungen auch eine Antwort: Daß es der
menschlichen Ratio verwehrt sei, eine Begründung zu liefern für ebendiese
Unterschiede und speziell für die Fähigkeit bestimmter Künstler, Neues zu
erfinden. Beides ist von Gott eingegeben. Mit der ersten Äußerung zum Phä-
nomen des Individualstils hängt die Einsicht zusammen, daß das menschli-
che ingenium und damit auch jedes Kunstwerk etwas für die Menschen
selbst nicht weiter Begründbares umfaßt.
Noch in einem weiteren Brief kommt Petrarca auf das Unerklärliche des
menschlichen Erfindungsvermögens zu sprechen: Bei richtig verstandener,
anverwandelnder Nachahmung gleiche das Verhältnis von Vorbild und
Umsetzung der nurmehr intuitiv erfaßbaren Ähnlichkeit zwischen Vater
und Sohn. »Irgendeine verborgene Kraft« - so Petrarca - erzeuge diese nicht
präzise definierbare Verbindung, die sich insbesondere im Gesicht und an
den Augen niederschlage. Die Maler würden diese schattenhafte Ähnlich-
keit aer nennen.69 70 Bis auf diese letzte Information sind Petrarcas Ausfüh-
rungen wiederum nicht originell, sondern geben mit anderen Worten den
Inhalt von Senecas berühmter 84. Epistula moralis wieder. Dort wird künst-
lerische Anverwandlung eines Vorbildes ausdrücklich dem Vermögen unse-
rer eingeborenen Begabung zugeschrieben (facultas uostri ingenii)™ Das
6S Rainerius de Pisis, Paiitbeologia, »predestinatio-, cap. ii »Quod merita non sunt
causa predestinationis sed voluntas divina«; in diesem Kapitel werden vier Vergleiche für die
unerklärliche göttliche Vorherbestimmung gegeben: das Universum, der menschliche Kör-
per, ein Gebäude und eben der Töpfer: »[...] in particulari quare petrum salvabit & iudam
damnavit. ratio humana aliqua non potest dari [...] patet hoc idem per exemplum in figulo.
Videmus enim quod figulus ex eadem massa luti facit vas pulcrum & turpe. Ita dicit apo-
stolus ad ro. ix.«; dort auch ein weiterer Verweis auf die Ausdeutung durch Augustinus, der
diese Stelle mehrfach zitierte (s. PL 37, 121 1; PL 40, 71, und PL 45, 1129, 1135).
69 Petrarca, R.PL, 23, 19: »Curandum imitatori ut quod scribit simile non idem sit,
eamque similitudinem talem esse oportere, non qualis est imaginis ad eum cuius imago est,
que quo similior eo maior laus artificis, sed qualis filii ad patrem. In quibus cum magna sepe
diversitas sit membrorum, umbra quedam et quem pictores nostri aerem vocant, qui in vultu
inque oculis maxime cernitur, similitudinem illam facit, que statim viso filio, patris in
memoriam nos reducat, cum tarnen si res ad mensuram redeat, omnia sint diversa; sed est
ibi nescio quid occultum quod hanc habeat vim.« - Während Petrarca für das Porträt im
Gegensatz zum »schattenhaften Abbild« im Sohn größtmögliche Ähnlichkeit fordert, verur-
teilt Seneca die Malerei als »imago res mortua est«. - Zu dieser Passage die Interpretatio-
nen von Kemp 1987, 4f.; Summers 1981, 56-59; Summers 1987, 110-124; Summers
1989. Allerdings paraphrasiert Summers seine Quellen teils fälsch und bringt sorglos Pas-
sagen des 14. mit solchen des späten 16.Jhs. zusammen. Man kann so seine Schlußfolge-
rungen nur eingeschränkt nachvollziehen.
70 Seneca, Epistula moralis, 84, 5-8.
2. Individualstil 61
sagt es der Apostel im 9. Römerbrief.6 * * 68
Petrarcas Formulierung »ex eadem massa« impliziert also zugleich mit der
Frage nach den verschiedenen Begabungen auch eine Antwort: Daß es der
menschlichen Ratio verwehrt sei, eine Begründung zu liefern für ebendiese
Unterschiede und speziell für die Fähigkeit bestimmter Künstler, Neues zu
erfinden. Beides ist von Gott eingegeben. Mit der ersten Äußerung zum Phä-
nomen des Individualstils hängt die Einsicht zusammen, daß das menschli-
che ingenium und damit auch jedes Kunstwerk etwas für die Menschen
selbst nicht weiter Begründbares umfaßt.
Noch in einem weiteren Brief kommt Petrarca auf das Unerklärliche des
menschlichen Erfindungsvermögens zu sprechen: Bei richtig verstandener,
anverwandelnder Nachahmung gleiche das Verhältnis von Vorbild und
Umsetzung der nurmehr intuitiv erfaßbaren Ähnlichkeit zwischen Vater
und Sohn. »Irgendeine verborgene Kraft« - so Petrarca - erzeuge diese nicht
präzise definierbare Verbindung, die sich insbesondere im Gesicht und an
den Augen niederschlage. Die Maler würden diese schattenhafte Ähnlich-
keit aer nennen.69 70 Bis auf diese letzte Information sind Petrarcas Ausfüh-
rungen wiederum nicht originell, sondern geben mit anderen Worten den
Inhalt von Senecas berühmter 84. Epistula moralis wieder. Dort wird künst-
lerische Anverwandlung eines Vorbildes ausdrücklich dem Vermögen unse-
rer eingeborenen Begabung zugeschrieben (facultas uostri ingenii)™ Das
6S Rainerius de Pisis, Paiitbeologia, »predestinatio-, cap. ii »Quod merita non sunt
causa predestinationis sed voluntas divina«; in diesem Kapitel werden vier Vergleiche für die
unerklärliche göttliche Vorherbestimmung gegeben: das Universum, der menschliche Kör-
per, ein Gebäude und eben der Töpfer: »[...] in particulari quare petrum salvabit & iudam
damnavit. ratio humana aliqua non potest dari [...] patet hoc idem per exemplum in figulo.
Videmus enim quod figulus ex eadem massa luti facit vas pulcrum & turpe. Ita dicit apo-
stolus ad ro. ix.«; dort auch ein weiterer Verweis auf die Ausdeutung durch Augustinus, der
diese Stelle mehrfach zitierte (s. PL 37, 121 1; PL 40, 71, und PL 45, 1129, 1135).
69 Petrarca, R.PL, 23, 19: »Curandum imitatori ut quod scribit simile non idem sit,
eamque similitudinem talem esse oportere, non qualis est imaginis ad eum cuius imago est,
que quo similior eo maior laus artificis, sed qualis filii ad patrem. In quibus cum magna sepe
diversitas sit membrorum, umbra quedam et quem pictores nostri aerem vocant, qui in vultu
inque oculis maxime cernitur, similitudinem illam facit, que statim viso filio, patris in
memoriam nos reducat, cum tarnen si res ad mensuram redeat, omnia sint diversa; sed est
ibi nescio quid occultum quod hanc habeat vim.« - Während Petrarca für das Porträt im
Gegensatz zum »schattenhaften Abbild« im Sohn größtmögliche Ähnlichkeit fordert, verur-
teilt Seneca die Malerei als »imago res mortua est«. - Zu dieser Passage die Interpretatio-
nen von Kemp 1987, 4f.; Summers 1981, 56-59; Summers 1987, 110-124; Summers
1989. Allerdings paraphrasiert Summers seine Quellen teils fälsch und bringt sorglos Pas-
sagen des 14. mit solchen des späten 16.Jhs. zusammen. Man kann so seine Schlußfolge-
rungen nur eingeschränkt nachvollziehen.
70 Seneca, Epistula moralis, 84, 5-8.
2. Individualstil 61