Den Schein größtmöglicher Lebendigkeit erlange die Darstellung von sen-
sus et motus animi, Charakter und kurzzeitiger Emotion, also nicht durch
simple Naturnachahmung, sondern eben vermittels figurae, durch künst-
liche Anordnungen. Das Pathos eines Werkes resultierte nicht allein daraus,
daß der Künstler sich den jeweiligen Gemütszustand möglichst intensiv ver-
gegenwärtige, sondern in einem zweiten Schritt rationaler Analyse hatte er
die zur Erzeugung dieser Wirkung erforderlichen Mittel zu wählen. Fazio
sieht darin dessen größte Leistung. Und wie könnte es anders sein: In der
Affekt-Darstellung vermittels Kunstfiguren brillierten in der Vorstellung des
frühen 15. Jhs. insbesondere die antiken Meister wie Timanthes, Euphranor,
Daemon und Artistides.115
Unter dieser Vorgabe mußten die Zeitgenossen Donatellos Relief als de-
monstrative Darstellung einer extremen Affektsituation verstehen, für die
sich das Thema des Herodesgastmahles mit seiner emotionalen Mischung
aus Stolz, Haß, Furcht, Entsetzen und Hybris gegenüber dem Wort Gottes
idealiter anbot.’16 Der Betrachter wird seine Bildlektüre bei der prominen-
ten Zuschauergruppe im rechten Vordergrund begonnen haben - als »Ein-
stieg« zudem durch die perspektivisch fluchtende, formatfüllende Treppe
akzentuiert. Der auf das Geländer gelehnte Mann kann grosso modo als
Mittlerfigur im Sinne Albertis gelten.11. Dessen neutrales Beobachten wird
(wie auch das des Betrachters) zum gebannten Blicken bei den Soldaten,
dann zum entsetzten Zurückschrecken der Sitzenden im Vordergrund, um
sich schließlich in die verschiedenen Formen des gelähmten Starrens der
Tischgesellschaft resp. der gespielten Gleichgültigkeit von Herodes - man
beachte seine ins Tischtuch verkrampfte Hand - und Herodias zu differen-
zieren, eine berechnete, kunstvolle Steigerung des Pathos also. Zur im Vor-
dergrund sitzenden Frau korrespondiert zudem rechts ein kleines, auf der
Treppenstufe kauerndes Kind, das von den Vorgängen unberührt und
unschuldig schläft. Es markiert sozusagen den Nullpunkt möglicher Erre-
gung, vor dessen Unschuld sich das Entsetzen und die moralische Verderbt-
ratam esse convenit. Et quamadmodum de pictura, ita et de sculptura, fusura, architectura,
quae omnes artes a pictura ortuin habent, dicendum est« (nach Baxandall 1964; s. auch
Baxandall 1971, 97-120, und Michels 1988).
1,5 Die Beispiele aus Plinius, Naturalis Historia, 34, 77; 35, 69 u. 98; bei Alberti, De
Pictura, § 41, wurde aus dem »demon Atheniensium« fälschlich der Maler Daemon.
116 Mt 14, 1 zu timor; Mk VI, 20f. zu metus-, s. die Kommentare der Glossa ordinaria,
Bd.4, [50-52] und [104]; vgl. Quintilian, Institutio Oratoria, 6, 2, 20, zu den Affekten der
Tragödie.
11 Alberti, De Pictura, 42. - Wenig Neues bietet Iris Marzik, »Die Gestik in der »Sto-
ria< Leon Battista Albertis«, in: Die Kunst und das Studium der Natur vom 14. zum 16. ]h.,
hg. Wolfram Prinz und Andreas Beyer, Weinsheim 1987, 277-288.
3. Das Relief mit dem Gastmahl des Herodes in Lille 225
sus et motus animi, Charakter und kurzzeitiger Emotion, also nicht durch
simple Naturnachahmung, sondern eben vermittels figurae, durch künst-
liche Anordnungen. Das Pathos eines Werkes resultierte nicht allein daraus,
daß der Künstler sich den jeweiligen Gemütszustand möglichst intensiv ver-
gegenwärtige, sondern in einem zweiten Schritt rationaler Analyse hatte er
die zur Erzeugung dieser Wirkung erforderlichen Mittel zu wählen. Fazio
sieht darin dessen größte Leistung. Und wie könnte es anders sein: In der
Affekt-Darstellung vermittels Kunstfiguren brillierten in der Vorstellung des
frühen 15. Jhs. insbesondere die antiken Meister wie Timanthes, Euphranor,
Daemon und Artistides.115
Unter dieser Vorgabe mußten die Zeitgenossen Donatellos Relief als de-
monstrative Darstellung einer extremen Affektsituation verstehen, für die
sich das Thema des Herodesgastmahles mit seiner emotionalen Mischung
aus Stolz, Haß, Furcht, Entsetzen und Hybris gegenüber dem Wort Gottes
idealiter anbot.’16 Der Betrachter wird seine Bildlektüre bei der prominen-
ten Zuschauergruppe im rechten Vordergrund begonnen haben - als »Ein-
stieg« zudem durch die perspektivisch fluchtende, formatfüllende Treppe
akzentuiert. Der auf das Geländer gelehnte Mann kann grosso modo als
Mittlerfigur im Sinne Albertis gelten.11. Dessen neutrales Beobachten wird
(wie auch das des Betrachters) zum gebannten Blicken bei den Soldaten,
dann zum entsetzten Zurückschrecken der Sitzenden im Vordergrund, um
sich schließlich in die verschiedenen Formen des gelähmten Starrens der
Tischgesellschaft resp. der gespielten Gleichgültigkeit von Herodes - man
beachte seine ins Tischtuch verkrampfte Hand - und Herodias zu differen-
zieren, eine berechnete, kunstvolle Steigerung des Pathos also. Zur im Vor-
dergrund sitzenden Frau korrespondiert zudem rechts ein kleines, auf der
Treppenstufe kauerndes Kind, das von den Vorgängen unberührt und
unschuldig schläft. Es markiert sozusagen den Nullpunkt möglicher Erre-
gung, vor dessen Unschuld sich das Entsetzen und die moralische Verderbt-
ratam esse convenit. Et quamadmodum de pictura, ita et de sculptura, fusura, architectura,
quae omnes artes a pictura ortuin habent, dicendum est« (nach Baxandall 1964; s. auch
Baxandall 1971, 97-120, und Michels 1988).
1,5 Die Beispiele aus Plinius, Naturalis Historia, 34, 77; 35, 69 u. 98; bei Alberti, De
Pictura, § 41, wurde aus dem »demon Atheniensium« fälschlich der Maler Daemon.
116 Mt 14, 1 zu timor; Mk VI, 20f. zu metus-, s. die Kommentare der Glossa ordinaria,
Bd.4, [50-52] und [104]; vgl. Quintilian, Institutio Oratoria, 6, 2, 20, zu den Affekten der
Tragödie.
11 Alberti, De Pictura, 42. - Wenig Neues bietet Iris Marzik, »Die Gestik in der »Sto-
ria< Leon Battista Albertis«, in: Die Kunst und das Studium der Natur vom 14. zum 16. ]h.,
hg. Wolfram Prinz und Andreas Beyer, Weinsheim 1987, 277-288.
3. Das Relief mit dem Gastmahl des Herodes in Lille 225