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Ubl, Karl
Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter (Band 9): Sinnstiftungen eines Rechtsbuchs: die "Lex Salica" im Frankenreich — Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.73537#0101
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Entwürfe von Gemeinschaft im 6. Jahrhundert

Diese Anekdote hinterlässt nicht den Eindruck, das merowingische Fran-
kenreich sei ein ,Rechtsstaat' gewesen. Mit solchen Geschichten prägte Gregor
von Tours vielmehr das Bild einer gesetzlosen, barbarischen Merowingerzeit.3
Sitte der Franken (mos Francorum) ist nach Gregor das lange Sitzen und Trinken
bei Tisch, nicht die Beilegung von Konflikten durch Recht. Die Lex Salica erwähnt
Gregor in seinem gewaltigen Werk mit keinem Wort.
Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat uns jedoch gelehrt, Gregors Er-
zählung nicht als Widerspiegelung der Realität zu nehmen, sondern als einen
sehr persönlichen Entwurf von Gemeinschaft.4 Seine Historien und Heiligenvi-
ten vermitteln die Botschaft, dass nicht das Recht, sondern die Bischöfe als
Stellvertreter lokaler Kultgemeinschaften gesellschaftliche Ordnung erzeugen.5
Seine Vision war apolitisch in dem Sinn, dass er nicht an der Konstruktion le-
gitimer politischer Gewalt interessiert war: weder durch die Hervorhebung
königlicher Konsensstiftung noch durch Narrative der ethnischen Zusammen-
gehörigkeit. Fränkische und römische Identität waren in seiner Geschichtser-
zählung gleichermaßen nebensächlich6. Diese Vision war radikal, übte aber im
merowingischen Frankenreich eine große Anziehungskraft aus. Daneben
brachte der am Hof der Merowinger tätige Dichter Venantius Fortunatus im-
periale Modelle ins Spiel, die geeignet waren, der enormen Expansion des
Frankenreichs im frühen 6. Jahrhundert Rechnung zu tragen.7 Nach der Erobe-
rung der Reiche der Burgunder und der Thüringer sowie nach der Annexion der
Provence und Bayerns umfasste das Königreich eine Vielzahl von Völkern mit
sehr unterschiedlicher Geschichte und Identität. Vor diesem Hintergrund bot es
sich für Venantius an, die universalen Werte römischer Zivilisation als gemein-
same Sprache der Herrschaft mit neuem Leben zu füllen und gegenüber den
merowingischen Königen anzupreisen. Neben diesen Visionen der beiden be-
kanntesten Autoren des 6. Jahrhunderts nahm aber auch die Bedeutung des
Frankennamens weiter zu. Dies ist zum Beispiel daran ablesbar, dass der Titel
des rex Francorum im Lauf des 6. Jahrhunderts üblich wurde und den einfachen
rex-Titel verdrängte.8 Vor allem fand aber eine Bewegung des Frankennamens
vom Rhein in den Westen statt, wodurch der gesamte nordgallische Raum all-
mählich zur eigentlichen Francia wurde.9 Der militärische Siegeszug der Fran-
kenkönige hatte die Ausweitung fränkischer Identität zur Folge.

3 Über die Frage der grassierenden Gewalt im 6. Jahrhundert vgl. die divergierenden Einschät-
zungen von Goffart, Narrators, S. 210-217; Fouracre, Attitudes; Halsall, Violence; Liebeschuetz,
Violence; Pohl, Perceptions.

4 Wegweisend Goffart, Narrators, S. 112-234. Ferner mit unterschiedlicher Gewichtung Heinzel-
mann, Gregor; Breukelaar, Historiography.

5 Vgl. Van Dam, Leadership, S. 179-201; Breukelaar, Historiography.

6 Hierzu Goffart, Narrators, S. 212, und grundlegend Reimitz, Frankish Identity, S. 52-73.

7 Reimitz, Frankish Identity, S. 88-97. Für Venantius ist immerhin ein indirekter Verweis auf die Lex
Salica greifbar: Carmina VII, 5, v. 35, Bd. II, S. 92 (patrias leges in einem Gedicht für den dux
Bodegisil).

8 Gillett, Ethnicity; Reimitz, Frankish Identity, S. 98-103.

9 Ewig, Teilungen, S. 156-159; ders, Volkstum, S. 628-644, Goetz, Wandlung. Siehe oben S. 63.
 
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