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Karl der Große und die mystische Autorität des Rechts

menbestands.126 Die leges willkürlich zu ändern, stand nicht zur Disposition, weil
dadurch die Legitimität der politischen Ordnung selbst untergraben worden
wäre: Die Ordnung des Frankenreichs als eines Reichs von Völkern, die durch
eigene Rechtsbücher charakterisiert waren, und mit einem König an der Spitze,
der auf dieser Rechtsordnung aufbauend wie die merowingischen Könige zum
Erlass von Edikten berechtigt war. Der Wortlaut und der Rechtsinhalt der
Rechtsbücher wurden deshalb bewahrt, auch wenn im Einzelfall eine Satzung
obsolet oder durch eine neue Regelung ersetzt worden war. Ziel der karolingi-
schen Herrscher war es also, primär die Normativität des schriftlichen Rechts zu
garantieren, indem sie die Lex Salica wie einen sakralen Text behandelten. Das
bedeutet aber andererseits nicht, dass die Effektivität der Normen, also die Nähe
zur Rechtswirklichkeit, völlig außer Acht gelassen worden wäre. Denn die Ef-
fektivität ließ sich nur dann gewährleisten, wenn zuerst die Geltung des
Schriftrechts gewährleistet war. Das Mitschleppen obsoleter Regelungen erweist
sich damit als ein funktionaler Bestandteil des Bestrebens, die Normativität
schriftlicher Gesetzestexte in einer politischen Gemeinschaft ohne staatliche In-
stitutionen erneut zur Geltung zu bringen.
Beim fränkischen Rechtsbuch weist daher die Stabilität des Normenbestands
auf die hohe, beinahe mystische Autorität des Rechtsbuchs. Dass dieses Konzept
des „mystischen Fundaments der Autorität" (Montaigne) der Zeit Karls des
Großen nicht vollkommen fremd war, zeigt ein Paratext in einer Pariser Hand-
schrift aus dem Umkreis Karls des Großen. Nach Prachtminiaturen römischer
Gesetzgeber befindet sich auf fol. 3r eine in holprigen Versen verfasste Einleitung:
„Es beginnt der Text der Rechtsbücher. Darin werden die mystischen Befehle
(dicta mystica) des höchsten Gottes vieler (Gesetzgeber) niedergeschrieben. Die-
ses heilige Werk sei, Leser, in deinem Mund, was nun der Codex dessen un-
zweifelhaft von vielen vorschreibt."127 Danach folgt die Aufzählung der Ge-
setzgeber von Kaiser Theodosius über die Rechte der Franken, Alemannen bis
zum dominus noster Karolus imperator. Dieser Text ist keine Neuschöpfung, er
imitiert vielmehr die Verse Alkuins, die dieser berühmte Gelehrte an das Ende
seiner im Auftrag Karls des Großen erarbeiteten Bibelfassung gestellt hatte.128
Der sakrale Charakter von Bibeltext und Rechtstext kann wohl nicht eindrück-
licher veranschaulicht werden, vor allem wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass
beide Paratexte in unmittelbarer Nähe zum Hof des Kaisers entstanden sind.129

126 Diese bewahrende Funktion ist auch bei den neuen Rechtsbüchern von 802 erkennbar. Der
Respekt vor lokalen Gewohnheiten ging darin so weit, dass nicht einmal der karolingische
Denar, eine der großen Errungenschaften Karls, überall vorausgesetzt wurde. Vgl. Siems, Studien,
S. 232-265, und künftig Ubl, Wergild.

127 Incipit textus libroruni legum. In hoc dicta conduntur suninii multorum mystica. Hoc corpus sacrum,
lector, in ore tuo, quod nunc a multis constat codix istius dictatus. Paris, lat. 4404, fol. 3r. Hierzu unten
S. 228.

128 Demonstriert bei Wallach, Manuscript, S. 256.

129 Aus dieser Perspektive hat Ganshof, Kapitularien, S. 151, richtig gesehen, wenn er schreibt: „Das
Stammesrecht, das überlieferte, das alte Recht war etwas Ehrwürdiges, fast schon Heiliges; man
hielt sich nicht für berechtigt, daran zu rühren, allenfalls in Ausnahmefällen und dann mit
 
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