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Schluss: Für eine andere Rechtsgeschichte

wurde, war das jeweilige Gewohnheitsrecht, wie es von Kommissionen auf der
Grundlage von nur undeutlich erkennbaren Vorlagen erfragt worden war. Un-
abhängig von der Frage, ob diese Rechtsbücher weit verbreitet waren und in der
Praxis angewandt wurden, stattete das Modell einer gentilen Rechtsordnung
somit die ethnischen Identitäten mit einer neuen Form von Stabilität aus. Ein
gutes Beispiel dafür sind die Sachsen. Seit der Integration in das Frankenreich
kristallisierte sich die Vorstellung einer eigenen sächsischen Rechtsordnung
heraus, auf die im 10. und 11. Jahrhundert immer wieder verwiesen wurde.14
Am Ende der Karolingerzeit betrachtete folglich Regino von Prüm das Recht
als Kennzeichen gentiler Identität: Die verschiedenen Völker unterscheiden sich
nicht nur durch Herkunft, Sitten und Sprache, sondern auch durch die Rechts-
bücher (leges).15 Der Unterschied zur römischen Ethnographie könnte größer
nicht sein: Während im 5. Jahrhundert Recht mit römischer Zivilisation, Chaos
und Ungeordnetheit dagegen mit der gentilen Welt der Barbaren gleichgesetzt
wurde, machte Regino das Recht zum Kennzeichen ethnischer Identität. Die
„ethnische Wende" hatte im Frankenreich somit das Recht erfasst: Für Isidor von
Sevilla war das eigene Recht noch kein Kennzeichen für Ethnizität.16
Das Modell einer gentilen Rechtsordnung verankerte somit das Recht als
Merkmal einer ethnischen Gemeinschaft weit über die Grenzen des ehemaligen
römischen Imperiums hinaus: nach Alemannien und Bayern, nach Friesland,
nach Sachsen und nach Thüringen. Selbst das römische Recht wurde im Fran-
kenreich vom gentilen Modell erfasst: In den Handschriften setzte sich der Titel
Lex Romana17 für das westgotische Breviar durch, wodurch ebenso wie mit der
Lex Salica ein Sonderrecht für eine bestimmte Personengruppe geschaffen wurde,
die sich als römisch betrachtete. Da mit Aquitanien ein großer Teil des Fran-
kenreichs zur Region des römischen Rechts zählte, kam es im 9. Jahrhundert zu
einer enormen Verbreitung der Lex Romana, die in der Zeit Karls des Kahlen einen
Höhepunkt erreichte. Wenn man allein die handschriftliche Produktion be-
trachtet, ist die große Anzahl römischer Rechtshandschriften aus der Karolin-
gerzeit erst wieder im 12. Jahrhundert erreicht worden. Trotz der universalen
Natur seiner Normen existierte das römische Recht als partikulare Rechtsord-
nung weiter.
Das Modell des gentilen Rechts war somit nicht nur für die Verankerung der
Rechtsidee außerhalb der Grenzen des Imperium Romanum verantwortlich, es
garantierte nach dessen Zerfall auch die enorme Verbreitung des römischen

14 Leyser, Freiheiten, S. 83; Goetz, Gentes, S. 99; Becher, Rex, S. 26-40; Faulkner, Law and Authority,
S. 46-83.

15 Nec non et illud sciendum, quod sicut diversae nationes populorum inter se discrepant genere, moribus,
Unguis, legibus, ita sancta universalis ecclesia toto orbe terrarum diffusa, quamvis in unitate fidei con-
iungatur tarnen consuetudinibus ecclesiasticis ab invicem differt. Regino von Prüm, Libri duo de
synodalibus causis, praef., S. 22. Programmatisch auch der bayerische Prolog aus den 740er
Jahren: Deinde unaquaque gens propriam sibi ex consuetudine elegit legem. Lex Baiuvariorum, prol.,
S. 200. Weitere Belege bei Wenskus, Stammesbildung, S. 38-44.

16 Isidor, Etymologiae IX, 2, S. 41-43. Diesen Unterschied übergeht Goetz, Wandlung, S. 136; ders.,
Gentes, S. 96-101.

17 Lex Romana Visigothorum, S. VI Anm. 6.
 
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