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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 14.1907

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Heft 9
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Heft 10
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Kesser, Hermann: Ferdinand Hodler, sein Stil und sein Kreis
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https://doi.org/10.11588/diglit.26457#0127

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erdinand Hod-
ler, sein Stil
unfein Kreis,
i.
Zwei Voraussetzungen
müssen gegeben sein, um ein
künstlerisches Ereignis zu be-
greifen und einzuschätzcn:
inan muß es in seinen:
ganzen Umfang gesehen und
erfaßt und man muß cs
l"« in: Zusammenhang betrachtet
haben, in: Zusammenhang
mit der ganzen Persönlichkeit,
die dahintcrsteht, und in Ver-
bindung nut den Zeitver-
hältnissen. Ohne diese Vor-
bedingungen gibt es keine
allgemein verbindlichen ästhetischen Wertungen. Alle
großen Stilschöpfer werden erst dann zu großen und
überragenden Erscheinungen, wenn wir die Jeitverhält-
nisse erwägen, unter denen sie geschaffen haben, und
darüber nachdenken, wie sie auf die Entwicklung der
Kunst eingcwirkr haben. Menschen nut künstlerischem
Instinkt können auch ohne solche Nachdenklichkeit die
Größe eines Werkes nachempfinden, und das Fest, das
der künstlerische Sinn feiert, mag herrlich und feierlich
werden: aber Wertungen und Interpretationen eines Kunst-
werkes werden nur dann erschöpfend sein, wenn sie gleich-
zeitig den Künstler und seine Zeit werten. Unentbehrlich
ist dies, wenn ein Künstler kommt, der in Formen redet,
zu denen das Sehvermögen erst erzogen werden muß.
Dann kann unter Umständen ein einziges auö einem
geschlossenen Lebenswerk herausgerissenes und dem Auö-
ftellungsbesucher — der häufigsten und gangbarsten Form
des Kunstbctrachtcrs — gezeigtes Werk nicht weniger
unverständlich wirken, wie etwa ein einzelner Satz, der
aus einem mächtigen Buche herausgenommen ist. In
diesem Sinne fasse ich das mir völlig begreifliche Nicht-
verstehen der Kunst auf, die in dem Schweizer Maler
Ferdinand Hodler verkörpert ist.
Hodler ist auf den deutschen Ausstellungen seit
anderthalb Jahrzehnten mit seinen besten Werken er-
schienen. Es hat Kunstschrciber und Ästhetiker gegeben,
die für ihn gearbeitet haben, und ein kleiner bescheidener
Kreis fängt an, die Bedeutung dieses Schweizer Malers
zu ahnen. Aber die Gesamtheit steht ihm ablehnend
gegenüber. Die Mehrzahl in der geläufigsten und ge-
fährlichsten Form der Ablehnung: der Gleichgültigkeit,
ein kleiner Teil mit Feindseligkeit und wieder einig? mit
Empfindungen, die nahezu an Abscheu und Wut grenzen.
Doch gibt es solche schroff und leidenschaftlich Ablehnende
nur in kleiner Zahl. Die Gerechtigkeit macht es not-
wendig, hier einzuschaltcn, daß eö'ffich hier meist um
Künstler handelt, um Maler, die in Hodlers Erscheinung
eine unwillkommene Störung erblicken. Man muß
diese Tatsache zugunsten des Publikums festhaltcn:
immer, wenn ein Neuerer kommt, der später einmal
groß wird und seinen Platz an der Ruhmessonne erhält,
C. Linck: Fresko an einer Hauswand in Bern.


erzählen die Biographien von dein völlig unverständige::
Publikum und von der bösen Kritik. Immer ist es die
Tagespresse (die leider nur in der Lage ist, aus der
Gegenwart heraus darzustellen, und nicht mit den
Tatsachen rechnen kann, die zwanzig Jahre später selbst
von Minderbegabten unschwer erkannt werden), von der
den bedauernswerten Künstlern das Leben sauer und der
Erfolg unmöglich gemacht wird. Von den konservativen
Künstlern, Menschen, die verbohrter und bockbeiniger
sein können als zwei Dutzend Zeitungsschreiber zu-
sammen, von jenen in: alten Stil Großgewordenen, d:e
den Neuerer grimmiger und unversöhnlicher umdräucn
als alle Kritiker und Historiker, von ihrer Schuld an
den: langsamen Aufkommen neuer Formenbildncr wird
»reist herzlich wenig gesprochen. Diese Bemerkung nur
nebenbei. Auf de? andern Seite ist hervorzuhcbcn, daß
sich um Hodler, um den es sich hier handelt, in seiner
Heimat, in der Schweiz, ein Kreis von Künstlern ge-
sammelt hat, die unter seiner Führung malen und
schaffen, und daß es gerade dieser schweizerische Maler-
kreis „um Hodler" ist, an den: die Stärke und Durch-
bildungSkraft seines Stils nachweisbar ist. Diese Künstler
sind fast ausschließlich in der deutschen Schweiz zu Hause,
sind Deutschschweizer, Angehörige der deutschen Kunst.
Hodler selbst ist ein geborener Deutschschweizer, ein
Berner, stammt also aus jenem Teile der Schweiz, wo
sich die deutschsprechende und germanische Rasse in der
Eidgenossenschaft trotz der Nähe der romanischen Landes-
teile an: reinsten erhalten hat. Allerdings, seine ersten
Eindrücke und seine ersten Lehrjahre sind französisch.
Er ist bei einem Jngres-Schüler, bei Bartholomy Menn*
in Gens, in die Schule gegangen, der dort ein Zeichen-
atelier unterhielt. Durch Menn hat er Ingres kennen
gelernt. Er ist dann später in Paris gewesen und Ende
der siebziger Jahre nach Spanien gegangen. Auch das,
waS er dort gesehen hat, ist nicht ohne Einfluß auf
seine Entwicklung geblieben. Spanien ist ein Erlebnis
seines Künstlcrwerdens. Und trotzdem ist Hodler in die
deutsche Kunst hineingcwachsen.
II.
Un: darzulegcn, was unö ein Künstler gibt, sind
zwei Wege vorhanden: man läßt den Dichter reden
oder gibt dem Ästhetiker mit dem Malerauge, dem
Analytiker das Wort. Uber den dichtenden Künstler
möge der Dichter in uns reden, über den Former und
Stilbildncr entschieden der Analytiker. ES ist Landes-
sitte geworden, daß unS die Poeten bei jeder möglichen
Gelegenheit versichern, sie brauchten den Analytiker nicht
und die Mehrzahl der Maler glaubt immer noch, sie
müsse bei seinen: Erscheinen pflichtschuldigst Reißaus
nehmen. Dennoch wird es sich empfehl?«, für Stil-
fragen, für Probleme der künstlerischen Form den Weg
der ästhetischen Formenanalyse zu betreten. Hodler ist ein
Formcnproblcm, er ist zu neun Zehntel ein malender
Problematiker und Formcnsucher, ein Mann der Formen-
tatsachen. Uber eine solche Erscheinung läßt sich allen
gegenteiligen Versicherungen zum Trotz nur in Tat-
sachen reden, und die dichterische Seite seiner Werke
° Geboren 1815 und gestorben I89Z in Genf; Hauptwerke
nn Museum Rath in Genf.

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