Abb. 4. Der „Seehof" in Meilen (Kanton Zürich),
Hoffaffadc, erbant I7L7.
hundcrtclange Selbständigkeit und Abgeschlossenheit ein
vermehrtes Maß von Hcimatsbewußtsein und Origi-
nalität bewahrt; und da er außerdem zu allen Zeiten
seinen Hauptstolz darein setzte, in selbstbewußter Tradition
vor allem als schlichter Bürger im Interesse seiner
Heimat tätig zu sein, entwickelte sich in diesem glück-
lichen Lande allmählich eine bürgerlich radikale aber
besonnene Demokratie, zu der auch das altvornehme,
bisweilen mehr international gesinnte Patriziat ftetö gerne
wieder zurückkehrte und die infolgedessen allen Äuße-
rungen des heimatlichen Lebens ihren behäbigen bürger-
lichen Charakter auszuprägen vermochte. Derartige
Tendenzen und Traditionen, die auch während der
Stürme der Revolution nur wenig in den Hintergrund
traten, haben bald mehr, bald weniger selbst heute noch
Geltung und ermöglichen cs, daß der für ein neu-
zeitliches heimatechtcs Bauschaffen nötige Anschluß an
die Vergangenheit in der Schweiz früher, rascher und
verständnisvoller gefunden werden konnte, als anderswo!
Wer jene zahlreichen kleinen Schweizerstädtchen, wie
Stein a. Rh., Lenzburg, Zofingen, Sursee, Schwuz,
Solothurn, Ncuenstadl, und viele andere kennt, weiß,
welche Schätze intimer alter Architektur da noch immer
zu finden sind. Neben stolz behäbigen Patrizicrpalästen
stehen dort überall zahlreiche Wichte, unansehnliche
Häuschen, die aber mit zu den wichtigsten und lehr-
reichsten Beispielen gehören, weil sie zeigen, wie trotz
stets gleichbleibendcn Bedingungen und trotz geringster
Abb. 5. Villa im sogmaantea Hofgut in Grünlingen
bei Bern, erbaut nach I7Z6.
Raumausdehnung allein dnrch Gruppierung, Material und
sparsam verwendete Schmnckformen immer wechselnde,
eigenartige Kompositionen möglich sind. Solch einfache
Wohnhäuser, die beredte Kunde geben von dem Anpassen
an den Charakter und die Lebensbedingungen ihrer
bürgerlichen Bewohner, verkörpern aufs lebensvollste
den Schweizer, der in ihnen haust. In sorgfältiger,
handwerklich sauberer Arbeit sind sie erstellt, ohne Prahlen
mit Können und Wissen, ohne Schwelgen in reichen
phantastischen Formen, sondern in mäßigendem Bescheiden,
wie es einem, der in bürgerlich sittlicher Zucht aus-
gewachsen, geziemt. Uber all dieser Klarheit und Hand-
werklichkcit ist allerdings nicht selten die ganze Überfülle
künstlerischer Laune in freudiger Freiheit ausgebreitet:
barocke Einfälle, kostbare Verzierungen mit sinnvollem
Detail, launige Ausflüchte und kapriziöse Schnörkel, die
die klaren Linien und Formen schmücken und beleben.
So wird die Geradheit von Natur und Kunst durch
erfrischende Genialität, durch ein blitzartiges Auftauchen
sinnenkräftiger Sehnsucht, vor selbstzufriedener Nüchtern-
heit bewahrt.
Das ist die Ursache des eigenartigen Reizes, den
alte Schweizer Bürgerhäuser, einerlei in welcher Gegend
und aus welcher Zeit, auf jeden unbefangenen Beschauer
auözuüben vermögen. Deswegen erscheinen uns auch
Bauten wie das alte historische Museum in Bern
(1772 — 1776) oder das ehemalige Theater daselbst, beide
von NiklauS Sprünglin erbaut, wie das Zunfthaus zur
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