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https://doi.org/10.11588/diglit.14692#0015
fibb. 1. Katze und Vogel. Freskofragment aus Hagia Triada.
I.
Die kretifcbe Malerei.
Es gibt kaum einen Winkel in der Welt und kaum eine Zeitfpanne in der Gefcbicbte,
die unfre um neue Formen ringende Gegenwart nicht durcbforfcbte und durcbftöberte, um
ficb Anregungen und Erregungen daraus zu holen. Orient, Oftafien und alle primitive Kultur
ftreiten um den Vorrang in dem Intereffenkreife des modernen Europäers. Nur eine ganze
Kulturwelt ift faft unbeachtet geblieben, nicht nur weil fie mit Unrecht als Vorftufe der klaffi--
fcben Kultur der Griechen angefeben worden ift1), fondern mehr noch darum, weil man fie nur
dort, wo fie entftanden ift, empfinden und genießen kann und weil diefes ihr Heimatland das
Unglück bat, nicht in Indien oder Afrika zu liegen, fondern zum alten Europa, wenn auch zu
feiner äußerften Peripherie, zu gehören.
Wer an dem Marcuslöwen vorüber auf leichtem Boot in den alten venetianifchen Hafen
von Candia bineingeglitten und dann durch weiße türkifche Gäßchen zum Mufeum gewandert
ift, wird von einer Märchenwelt umfangen, die unwiderftehlich den Befucher in ihren Bann
zwingt. Farbenfrohe Bilder leuchten von den Wänden, erlefenftes Kunftgewerbe füllt die
Schränke und Tifche, und alle Geftalten und Formen erfcheinen fremd und doch vertraut,
greifbar und doch unwirklich. Wie verzaubert fühlt ficb der Fremdling in diefer Welt, die er
mit feinen Sinnen erlebt und nicht begreift, inmitten von Göttern und Menfchen, die er im
Bilde vor ficb fiebt und nicht mit Namen nennen kann. Eine Jahrtaufende vergeffene Kind--
heitsgefcbichte der europäifchen Kultur ift in Kreta zu neuem Leben erwacht. Fils Menfchen
jene Kultur zerftörten, bat Mutter Erde die Refte in ihrem Schoß geborgen und fie uns jetjt
von neuem gefchenkt. Wir wandern wieder durch die Paläfte, die im zweiten jabrtaufend vor
Cbriftus ficb die Fürften von Kreta gebaut haben, uns ftrablen wieder die Farben ihrer Wände,
Rodenwaldt, Der Fries des Megarons von Mykenai. 1
I.
Die kretifcbe Malerei.
Es gibt kaum einen Winkel in der Welt und kaum eine Zeitfpanne in der Gefcbicbte,
die unfre um neue Formen ringende Gegenwart nicht durcbforfcbte und durcbftöberte, um
ficb Anregungen und Erregungen daraus zu holen. Orient, Oftafien und alle primitive Kultur
ftreiten um den Vorrang in dem Intereffenkreife des modernen Europäers. Nur eine ganze
Kulturwelt ift faft unbeachtet geblieben, nicht nur weil fie mit Unrecht als Vorftufe der klaffi--
fcben Kultur der Griechen angefeben worden ift1), fondern mehr noch darum, weil man fie nur
dort, wo fie entftanden ift, empfinden und genießen kann und weil diefes ihr Heimatland das
Unglück bat, nicht in Indien oder Afrika zu liegen, fondern zum alten Europa, wenn auch zu
feiner äußerften Peripherie, zu gehören.
Wer an dem Marcuslöwen vorüber auf leichtem Boot in den alten venetianifchen Hafen
von Candia bineingeglitten und dann durch weiße türkifche Gäßchen zum Mufeum gewandert
ift, wird von einer Märchenwelt umfangen, die unwiderftehlich den Befucher in ihren Bann
zwingt. Farbenfrohe Bilder leuchten von den Wänden, erlefenftes Kunftgewerbe füllt die
Schränke und Tifche, und alle Geftalten und Formen erfcheinen fremd und doch vertraut,
greifbar und doch unwirklich. Wie verzaubert fühlt ficb der Fremdling in diefer Welt, die er
mit feinen Sinnen erlebt und nicht begreift, inmitten von Göttern und Menfchen, die er im
Bilde vor ficb fiebt und nicht mit Namen nennen kann. Eine Jahrtaufende vergeffene Kind--
heitsgefcbichte der europäifchen Kultur ift in Kreta zu neuem Leben erwacht. Fils Menfchen
jene Kultur zerftörten, bat Mutter Erde die Refte in ihrem Schoß geborgen und fie uns jetjt
von neuem gefchenkt. Wir wandern wieder durch die Paläfte, die im zweiten jabrtaufend vor
Cbriftus ficb die Fürften von Kreta gebaut haben, uns ftrablen wieder die Farben ihrer Wände,
Rodenwaldt, Der Fries des Megarons von Mykenai. 1