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DER SICHTBARE PINSELSTRICH
Johannes» entwickelte Bildidee, nämlich Opfer und Täterin durch zwei
verschiedene malerische Fakturen miteinander zu kontrastieren und die
rauhe maniera als malerisches Äquivalent für Zerstörung einzusetzen,
wurde von Tizian durch diese rezeptionslenkende Strategie noch weiter-
entwickelt. Der Wahrnehmungsvorgang wird gedehnt und dadurch dem
Betrachter ins Bewußtsein gerückt. Die Reflexion über die Handlung
unter ethischem Gesichtspunkt einerseits und über die Bedingtheit von
Wahrnehmung andererseits ist wohl das Ziel dieser Strategie: Ist die Tat
Judiths durch ihre Wirkung - die assyrischen Truppen zogen sich ja aus
Bethulia zurück - im Alten Testament eindeutig positiv konnotiert, und
wurde Judith durch sie zur Heldin ihres Volkes Israel, so ist sie doch außer-
ordentlich grausam, wie dem Betrachter im kalkuliert überrraschenden
Anblick des abgetrennten Kopfs unmittelbar bewußt wird. Der «schöne
Schein», den Tizian in der malerischen Perfektion des Frauenantlitzes so
pointiert und mit referentieUem Charakter ins Bild gesetzt hat, wird zum
Gegensatz des «Sein» der den Holopherneskopf konstituierenden Malma-
terie. Feste Zuweisungen, die in der Bildtraditon und in der Exegese die
junge Witwe zum exemplum für Keuschheit und Demut gemacht hatten,
werden durch eine Darstellung, in der Judiths Blick und ihre bereits fort-
geschrittene Entkleidung dem Thema die erotische Dimension zurück-
gibt, in Frage gestellt und sollen vom Betrachter wohl neu durchdacht
werden. So zielt die Strategie des Malers auf eine Reflexion über Sehen und
Erkennen, die Bewußtwerdung der sinnlichen Ausstrahlung des Frauen-
bildnisses wie auch des eigenen voyeuristischen und begehrenden Blicks
auf die schöne Witwe, der bereits Holophernes zum Verhängnis geworden
war.
Die Selbstbezüglichkeit der Malerei hat in einem Gemälde wie der
«Judith» einen besonderen Grad erreicht, wenn die Art und Weise der
Wirklichkeitsschilderung zum Inhalt des Bildes wird, und das Interesse
des Betrachters vom «Lesen» einer verbildlichten Handlung auf den
Modus der Vermittlung eben dieser Handlung durch den Maler gelenkt
wird. Das Porträt Aretinos, in dem der Pinselduktus zum Anspruch for-
mulierenden Bildmittel wird, und die «Judith», in der Tizian dem
DER SICHTBARE PINSELSTRICH
Johannes» entwickelte Bildidee, nämlich Opfer und Täterin durch zwei
verschiedene malerische Fakturen miteinander zu kontrastieren und die
rauhe maniera als malerisches Äquivalent für Zerstörung einzusetzen,
wurde von Tizian durch diese rezeptionslenkende Strategie noch weiter-
entwickelt. Der Wahrnehmungsvorgang wird gedehnt und dadurch dem
Betrachter ins Bewußtsein gerückt. Die Reflexion über die Handlung
unter ethischem Gesichtspunkt einerseits und über die Bedingtheit von
Wahrnehmung andererseits ist wohl das Ziel dieser Strategie: Ist die Tat
Judiths durch ihre Wirkung - die assyrischen Truppen zogen sich ja aus
Bethulia zurück - im Alten Testament eindeutig positiv konnotiert, und
wurde Judith durch sie zur Heldin ihres Volkes Israel, so ist sie doch außer-
ordentlich grausam, wie dem Betrachter im kalkuliert überrraschenden
Anblick des abgetrennten Kopfs unmittelbar bewußt wird. Der «schöne
Schein», den Tizian in der malerischen Perfektion des Frauenantlitzes so
pointiert und mit referentieUem Charakter ins Bild gesetzt hat, wird zum
Gegensatz des «Sein» der den Holopherneskopf konstituierenden Malma-
terie. Feste Zuweisungen, die in der Bildtraditon und in der Exegese die
junge Witwe zum exemplum für Keuschheit und Demut gemacht hatten,
werden durch eine Darstellung, in der Judiths Blick und ihre bereits fort-
geschrittene Entkleidung dem Thema die erotische Dimension zurück-
gibt, in Frage gestellt und sollen vom Betrachter wohl neu durchdacht
werden. So zielt die Strategie des Malers auf eine Reflexion über Sehen und
Erkennen, die Bewußtwerdung der sinnlichen Ausstrahlung des Frauen-
bildnisses wie auch des eigenen voyeuristischen und begehrenden Blicks
auf die schöne Witwe, der bereits Holophernes zum Verhängnis geworden
war.
Die Selbstbezüglichkeit der Malerei hat in einem Gemälde wie der
«Judith» einen besonderen Grad erreicht, wenn die Art und Weise der
Wirklichkeitsschilderung zum Inhalt des Bildes wird, und das Interesse
des Betrachters vom «Lesen» einer verbildlichten Handlung auf den
Modus der Vermittlung eben dieser Handlung durch den Maler gelenkt
wird. Das Porträt Aretinos, in dem der Pinselduktus zum Anspruch for-
mulierenden Bildmittel wird, und die «Judith», in der Tizian dem