Erstes Kapitel
VON SCHATZKAMMERN IM ALLGEMEINEN UND
DER WIENER SCHATZKAMMER IM BESONDEREN
Betrachtet man die Geschichte des Sammelwesens in seinem weitesten
Umkreis, so stellen sich die Schatzkammern als ein überhaupt er?
kennbarer und psychologisch leicht zu erklärender Beginn dar. Schon
im grauesten Altertum tritt dem Schatzhause des Fürsten das in Dauer
und Unverletzlichkeit viel mehr gesicherte der Gottheit und ihrer
Priester gegenüber; auch hat sich dieses im Verlaufe der Entwick?
lung mehr als einmal als das formgebende Element erwiesen. Ganz
besonders gilt dies vom christlichen Mittelalter. Der Tempelschatz
der Antike mit seinen merkwürdigen «musealen» Tendenzen liegt vor?
aus und der Heiltumschatz der christlichen Kirche wiederholt, auf
einer höhern Windung der Entwicklungsspirale, manches aus seinem
Werdegang. Wie die mittelalterliche Kirche in dem gewaltigen Bau
ihres Gedankensystems alles Weltliche und Profane, Geschichte wie
Mythus, in sich aufnimmt, auflöst, in ihrer idealistisch hochgespannten
Gesinnung umwertet, so hat sie auch die Schätze dieser Erde, nicht
nur bloß als Opfer und Votive des Sühneglaubens, einer höheren Idee
dienstbar gemacht, nicht ausschließlich als sinnliches Symbol ihrer Macht
und Größe verwendet. Zugleich aber gestaltet sie in ihrem nie ganz
verleugneten demokratischen Grundzug den Heiltumschatz zur Urform
der öffentlichen Schausammlung; er wird an bestimmten Tagen und
nach bestimmten Zeremonien durch «Rufer» dem Volke gewiesen, ganz
abgesehen von dem, was der Gemeinde an geheiligtem Orte stets oder
an bestimmten Festtagen in Denkmälern der Kunst und Geschichte zu?
gänglich und sichtbar war. Dem gegenüber haben die fürstlichen Kunst?
schätze, nicht minder die großen «Galerien» des XVII. Jahrhunderts, die
sich von ihnen abzweigen, ihren wesentlich privaten Charakter, ihr Merk?
mal, nur wenigen Berufenen oder Geladenen zugänglich zu sein, bis über
das XVIII. Jahrhundert hinaus, ja mehr oder minder bis heute bewahrt.
i
1
VON SCHATZKAMMERN IM ALLGEMEINEN UND
DER WIENER SCHATZKAMMER IM BESONDEREN
Betrachtet man die Geschichte des Sammelwesens in seinem weitesten
Umkreis, so stellen sich die Schatzkammern als ein überhaupt er?
kennbarer und psychologisch leicht zu erklärender Beginn dar. Schon
im grauesten Altertum tritt dem Schatzhause des Fürsten das in Dauer
und Unverletzlichkeit viel mehr gesicherte der Gottheit und ihrer
Priester gegenüber; auch hat sich dieses im Verlaufe der Entwick?
lung mehr als einmal als das formgebende Element erwiesen. Ganz
besonders gilt dies vom christlichen Mittelalter. Der Tempelschatz
der Antike mit seinen merkwürdigen «musealen» Tendenzen liegt vor?
aus und der Heiltumschatz der christlichen Kirche wiederholt, auf
einer höhern Windung der Entwicklungsspirale, manches aus seinem
Werdegang. Wie die mittelalterliche Kirche in dem gewaltigen Bau
ihres Gedankensystems alles Weltliche und Profane, Geschichte wie
Mythus, in sich aufnimmt, auflöst, in ihrer idealistisch hochgespannten
Gesinnung umwertet, so hat sie auch die Schätze dieser Erde, nicht
nur bloß als Opfer und Votive des Sühneglaubens, einer höheren Idee
dienstbar gemacht, nicht ausschließlich als sinnliches Symbol ihrer Macht
und Größe verwendet. Zugleich aber gestaltet sie in ihrem nie ganz
verleugneten demokratischen Grundzug den Heiltumschatz zur Urform
der öffentlichen Schausammlung; er wird an bestimmten Tagen und
nach bestimmten Zeremonien durch «Rufer» dem Volke gewiesen, ganz
abgesehen von dem, was der Gemeinde an geheiligtem Orte stets oder
an bestimmten Festtagen in Denkmälern der Kunst und Geschichte zu?
gänglich und sichtbar war. Dem gegenüber haben die fürstlichen Kunst?
schätze, nicht minder die großen «Galerien» des XVII. Jahrhunderts, die
sich von ihnen abzweigen, ihren wesentlich privaten Charakter, ihr Merk?
mal, nur wenigen Berufenen oder Geladenen zugänglich zu sein, bis über
das XVIII. Jahrhundert hinaus, ja mehr oder minder bis heute bewahrt.
i
1