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Springer, Anton; Osborn, Max [Editor]
Handbuch der Kunstgeschichte (Band 5): Das 19. Jahrhundert — Leipzig, 1909

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https://doi.org/10.11588/diglit.30792#0036
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Erster Abschnitt: 1750—1819.


18. Die Überfahrt des Megapenthes, von A. I. Carstens. Weimar, Museum.

angekommen war, zur Rückkehr. Er lebte dann eine Zeitlang in Lübeck und mehrere Jahre
(1785—1792) in Berlin. Ein Stipendium setzte ihn endlich in den Stand, das Land seiner
Ideale aufzusuchen. Aber nur sechs Jahre lebte er noch in Rom, vielfach angefeindet, doch
von einem kleinen Kreise hoch verehrt und als Führer und Meister begrüßt. In diese römische
Zeit fällt seine reichste Wirksamkeit. Dem Laien erscheint sie schwerlich als solche. Denn
Carstens schuf nicht ausgeführte Gemälde, sondern beinahe ausschließlich Zeichnungen, in ein-
fachen Umrissen mit dem Bleistift oder der Feder gezogen, dann sogenannte Kartons, in schwarzer
Kreide mit aufgehöhten Lichtern entworfen, und leicht gefärbte Blätter. Seine Phantasie wurde
zwar auch durch Ossian, Dante, Goethe (Faust in der Hexenküche) angeregt, doch fühlte er sich
in der antiken Stosfwelt und im Kreise der Allegorie allein vollkommen heimisch. Selbst ent-
legenere und abstrakte Gedanken, wie z. B. die Geburt des Lichts, gewannen in seiner Phantasie
eine greifbare Gestalt. Carstens versteht aber auch mit psychologischer Schärfe leidenschaftlichere
Charaktere zu zeichnen. Nach Lucian, aus dem schon die Renaissance gern schöpfte, schildert
er die Überfahrt des Megapenthes (Abb. 18). Der reiche Tyrann, auf seinem Fluchtversuche
eingeholt, wird an den Mast des gefüllten Charonnachens gebunden, auf seinem Rücken hat
sein Widerpart, der Schuster Micyll, Platz genommen. Andere Zeichnungen von hervor-
ragender Bedeutung schildern den Besuch der Argonauten bei Chiron, der sich mit Orpheus
in einen Sangeswettstreit einläßt, die Helden im Zelte des zürnenden Achilles vor Trosa,
Oedipus in Kolonos, Homer, der vor versammeltem Volke seine Lieder singt u. a. Überraschend
wirkt in diesen unscheinbaren Blättern die innere Wahrheit der Darstellung. Man merkt,
daß der Zeichner nicht dem Dichter nur die äußeren Züge des Vorgangs abgelauscht hat und
es dem Beschauer überläßt, an der poetischen oder literarischen Quelle die Phantasie zu er-
 
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