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Springer, Anton; Osborn, Max [Hrsg.]
Handbuch der Kunstgeschichte (Band 5): Das 19. Jahrhundert — Leipzig, 1909

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https://doi.org/10.11588/diglit.30792#0178
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152

Dritter Abschnitt: 1850—1870.

namenlosem Weh. „Doch wenn du
sprichst: Ich liebe dich, so muß ich
weinen bitterlich" — aber die mo-
derne Volksliedstimmung dieser deut-
schen Verse wird verändert durch eine
krankhaft gesteigerte Sensibilität. Das
Sentimentale potenziert sich zu schmach-
tender Trauer, das Träumerische zum
Somnambulen. Große dunkle Augen
starren seherhaft ins All, ins Nichts,
als durchschauten sie die unheimliche
Verwandtschaft von Traum und Tod
und sexueller Ekstase, von der schon
die deutschen Romantiker phantasiert
hatten (Abb. 159). Blasse schlanke
Hände mit zarten, zerbrechlichen Fin-
gern verschränken sich in eckigen,
Preziosen Linien, halten eine Blume,
einen Spiegel, ein kostbares Ge-
fäß. Über hochaufgeschossenem, hüs-
tenlosem Körper trägt ein starker
Hals, der sich verlangend empor-
reckt, einen schmalen Kopf von
edlen Linien, der von flutenden
Wellen golden schimmernden Blondhaars oder reicher dunkler Locken umrauscht ist. Zwei
schöne Engländerinnen, Miß Elisabeth Siddal, Rossettis Geliebte und wenige Jahre lang
seine Gattin, und neben ihr Miß Morris, sind die Modelle dieser Gestalten, die wohl schon
auf dem König Lear-Bilde Browns sich ankündigen, aber ihre typische Prägung erst seht er-
halten. Doch auch im Werke Rossettis selbst macht dieser Typus eine Entwicklung durch. Erst
in den Anfängen steckt er bei den Marienbildern, mit denen der begeisterte Vorkämpfer der
„Early Christian Art" einsetzte. Dann wächst er zu verzehrender Schönheit empor in den
erotischen Szenen ans der Tristan- und Artussage, aus mittelalterlichen Romanen und Legenden
und aus dem Decameron. Er steigert sich noch in den wundervollen Bildern aus Dante, dessen
Namen Rossetti trug, in dessen hoher Geisteswelt er ausgewachsen war, dessen Liebesschicksal
ihm nach Elisabeths frühem Tode als eine Vorahnung seines eignen erschien (Abb. 160). Und
die höchste Staffel erreicht dieser präraffaelitische Frauentypus in den Werken der letzten Epoche,
in denen nur einzelne Gestalten — Monna Vanna, Proserpina, Beata Beatrix, Astarte Syriaca,
Fiammetta, Venus Verticordia, Lilith oder Desdemona oder anders genannt -— erscheinen, die
Fiesoles und Botticellis unschuldsvolle Anmut mit den exaltierten Stimmungen eines nervös
überreizten Temperaments mischen. Auch die Farbe, die von vornherein mit starken Akkorden
diese dekadenten Poesien begleitet, leuchtet nun in den rauschenden Tönen üppiger Giftblumen,
in denen die lockende Grausamkeit und das stumme Verlangen der Gesichter ein malerisches
Echo finden.
Rossetti war nicht allein ein Maler. Er war auch ein Dichter, der erst im „Germ", der
Zeitschrift der Bruderschaft, später in lyrischen Bändchen von hohem Reiz, mit Swinburne wett-
eifernd, poetische Parallelen zu seineu Gemälden zog, die an psychologischem Raffinement ihres-


159. Studie, von D- G. Rossetti. London.
 
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