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Springer, Anton; Osborn, Max [Hrsg.]
Handbuch der Kunstgeschichte (Band 5): Das 19. Jahrhundert — Leipzig, 1909

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https://doi.org/10.11588/diglit.30792#0181
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3. Der Realismus in Frankreich.

155

Natur hinaus und findet schon in der Möglichkeit, das Auge über eine Ebene zum fernen
Horizont schweifen zu lasfen, einen Genuß, berauscht sich schon im Anblick des Gewordenen und
Gewachsenen, nicht Gemachten und Erdachten, sieht in der freien Willkür feder Baumsilhouette
eine beglückende Abwechslung gegenüber der Regelmäßigkeit städtischer Straßen. Aber es ist
mehr als eine sentimentale Naturschwärmerei, die hierbei zum Ausdruck kommt. Das Gefühl
für diese Dinge steigert sich zu einer Andacht, der eine fast religiöse Weihe innewohnt, zu einem
pantheistischen Ahnen des tiefen Zusammenhangs zwischen dem Individuum und dem All. Die
träumerische Naturbetrachtung wird zu einem schmerzvollen Glück, zu einem Aufgehen der Einzel-
Persönlichkeit in die Einheit des kosmischen Organismus, von der sie nur ein winziges Teilchen
ist. Das Geschlecht, das sich von der Kirche mehr und mehr entfernt, sieht in der Hingabe


162. Das Bad der Diana, von C. Corot.

an die Natur eine Art freien Gottesdienstes, in der sich seine reinsten Empfindungen, vom
Dunst des Alltags befreit, zu einem höheren und reicheren Lebensgefühl verbinden. Künstler
von solcher psychischen Verfassung bedürfen keiner Besonderheit in der Landschaft, um die Selig-
keit ihres Herzens ausströmen zu lassen. Gerade das einfachste, bescheidenste Thema erscheint
dem Maler willkommen, um in seine Geheimnisse einzudringen, um in der liebevollen Wieder-
gabe seiner Licht- und Schattenreize, seiner Formkontraste, seiner atmosphärischen Besonderheiten
die von der Wirklichkeit empfangenen Gefühlseindrücke in künstlerischer Läuterung mitzuteilen.
Die gemalte Landschaft ist nicht mehr Kulisse für eine Szenerie von Figuren, nicht mehr
dekorativer Hintergrund, nicht mehr Darstellung einer geographischen Besonderheit, sondern ein
stack Ruins" des Künstlers selbst, dessen Konzentration im Bilde auch die Seele des Beschauers
in eigentümliche Bewegung versetzt.
Um solcher Sehnsucht Befriedigung zu fchaffen, war es nicht nötig, weit in der Welt
umherzureisen, war es nicht einmal nötig, die Landschaft der Heimat da aufzusuchen, wo sie
Pathetisch und rhetorisch wurde. Es genügte, die Stadt so weit zu verlassen, daß ihr Lärm
die Andacht nicht störte. Unter den Bäumen von St. Cloud, in dem benachbarten Ville
 
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