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Springer, Anton; Osborn, Max [Hrsg.]
Handbuch der Kunstgeschichte (Band 5): Das 19. Jahrhundert — Leipzig, 1909

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https://doi.org/10.11588/diglit.30792#0221
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4. Das Erwachen der Farbe in Deutschland.

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Cranach und Holbein führte, Plötzlich abgebrochen wurde. Niemand wird verkennen, daß auch
in der glorreichen Epoche der deutschen Renaissance der Sinn der deutschen Künstler noch mehr
auf Form und Linie denn auf Farbe gerichtet war; weit stärker als in seinen Bildern offen-
bart sich in Dürers Holzschnitten, Kupferstichen und Zeichnungen die tiefste Kraft seines Genies.
Immerhin waren wir damals auf dem rechten Wege. Aber während des siebzehnten Jahr-
hunderts, da die Spanier und Niederländer der Malerei die mächtigen Impulse gaben, und
im achtzehnten, da sich Franzosen und Engländer, gestützt aus diese Errungenschaften und die
Traditionen der Renaissance, ihre große Kunst bildeten, standen wir ohnmächtig zur Seite. Und
als wir mit dem ausklingenden Rokoko wieder Anschluß an die europäische Bewegung zu ge-
winnen suchten, stellte sich alsbald der Klassizismus in den Weg, der in Deutschland besseren
Nährboden fand als irgendwo sonst. Es war dem Kartonstil bei uns ein Leichtes, die Farbe
wieder völlig znrückzudrängen, und es bedurfte außerordentlicher Anstrengungen, sie aufs neue
in ihre Rechte einzusetzen.


203. Nachtigallengebüsch, Friesentwurf von PH. O. Runge.
(Aus Westermanns Monatsheften)

Doch ganz war die Tüchtigkeit des Farbenhandwerks, das sich die Graff, Tischbein,
Vogel, Chodowiecki und ihre Nebenmänner angeeignet hatten, nicht verloren gegangen. In
aller Stille waren im Süden wie im Norden Künstler tätig, die in ehrlicher, schlichter Art,
wenn auch oft eckig und ungeschickt, die solide Tradition pflegten oder gar ans bescheidenen
Platzhaltern zu Vorkämpfern und Vorahnern künftiger Entwicklungen wurden, freilich ohne
den Gang der deutschen Kunst alsbald beeinflussen zu können. Es war eine Unterströmung,
die lange unbeachtet blieb, und erst das letzte Jahrzehnt hat zahlreichen Künstlern dieser
Kreise die Anerkennung verschafft, die ihnen gebührt, hat andere, die unverdient in Vergessen-
heit geraten waren, aus dem Dunkel wieder hervorgezogen. Die „Deutsche Jahrhundert-
Ausstellung" der Berliner Nationalgalerie im Jahre 1906 hat dann alle diese Persönlichkeiten
einmal vor der breitesten Öffentlichkeit vereinigt und damit ähnlich wie die französische Centen-
nale der Weltausstellung von 1900 der Kunstgeschichte wertvolle Winke gegeben. Doch auch
hierbei wird man wie in der Folgezeit nie vergessen dürfen, daß malerisches Sehen und farbiger
Ausdruck letzten Endes Dinge sind, die der deutschen Kunst nicht von Natur im Blute liegen,
daß sie die Aufgaben, die sich auf diesem Gebiet ergeben, unmittelbar und aus eigner Kraft,
ohne fremde Anregungen und Wegweisungen, nicht restlos zu lösen vermag. Andere Elemente,
das innere Verhältnis von Mensch und Natur, von Mensch und Kunst, von Mensch zum
Menschen, von sinnlichen und seelischen Wünschen, sind bei uns stets von stärkerer und selb-
ständigerer Zeugungskraft gewesen. So hat es sich bei vielen unserer Besten immer darum
gehandelt, wie sie dies Kapital an nationaler Eigenart durch unablässiges Hinarbeiten auf eine
höhere Reise der technischen Gestaltung ertragreich machen, wie sie zwischen dem, was ihnen die
Natur mit auf den Weg gegeben, und dem, was ihnen von Hause aus zunächst fehlte, einen
Ausgleich schaffen könnten.
 
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