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Springer, Anton; Osborn, Max [Hrsg.]
Handbuch der Kunstgeschichte (Band 5): Das 19. Jahrhundert — Leipzig, 1909

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https://doi.org/10.11588/diglit.30792#0316
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274

Vierter Abschnitt: 1870—1900.

Japaner kennen. Mit Entzücken entdeckte man an diesen Werken des fernen Ostens, wie zart
die Maler von Nippon mit den sparsamsten Mitteln die Natur ihres Landes aus die Seide
und das kostbare Papier des Kakemonos zauberten, wie sie mit den lichtesten Farben Luft und
Sonnenschein, Landschaft, Menschen und Tiere ihrer Heimat in wenigen Strichen Wiedergaben.
Man lernte von ihnen die Kunst, das Nebensächliche auszuscheiden, mit raschem Auge den
richtigen und charakteristischen Eindruck eines Naturausschnitts zu erfassen, den Rhythmus der
Hauptlinien zu erkennen und sie zu harmonischem Spiel miteinander zu verbinden. Man lernte
von ihnen die fesselnden Wirkungen des Unsymmetrischen, der ungezwungenen Abgrenzung, die
bei allem Raffinement einer glücklichen Laune des Zufalls ihre Entstehung zu verdanken scheint,
lernte von ihnen die Vorteile des erhöhten Standpunktes, der es ermöglicht, ungeahnte per-
spektivische Ausblicke zu eröffnen und dem Beschauer in kleinem Rahmen eine ganze Welt zu
Füßen zu legen. Katsushika Hokusai namentlich (1760—1849, Abb. 294), der letzte bedeutende
Ausläufer der alten japanischen Kunst, der als Maler und Holzschneider noch einmal ihre ganze
Kraft zusammengesaßt hatte, begeisterte die Pariser. Und aus allen diesen Elementen erwuchs

ihnen eine neue Anschauung, schufen sie sich eine neue malerische Technik. Nicht darauf kommt
es nun an, die Einzelheiten eines natürlichen Vorbildes in seinen Linien und Farben korrekt
nachzubilden, sondern seinen Gesamteindruck wiederzugeben, das Leben des flimmernden Lichts,
der wehenden Luft, des atmosphärischen Fluidums zu verfolgen, das alle Teile zu einem
Ganzen bindet und die plastische Festigkeit der Konturen malerisch anflöst. Der Helligkeit des
Tageslichts näher zu kommen, die blendenden Strahlen der unverhüllten Sonne, das verteilte
Licht bei bewölktem Himmel eindringlicher, wahrer wiederzugeben, auch die Schatten auf ihre
farbigen Elemente hin zu untersuchen, in sorgsam abgestuften Tonwerken jeder Nuance der
Beleuchtung nachzugehen, das niemals unterbrochene, ewig bewegte innere Leben der Natur mit
festem Griff zu packen. Von einer realistischen Absicht kann dabei nur in einem beschränkten
Maße die Rede sein. Denn das Ziel ist gar nicht ein objektives Abspiegeln der Natur, viel-
mehr der Ausdruck des jeweiligen subjektiven Eindrucks. Der Impressionismus ist eine eminent
persönliche Kunst, und Zola war im Recht, wenn er die Ästhetik seiner Freunde in den Satz
zusammenfaßte: „Das Kunstwerk ist ein Stück Natur, gesehen durch ein Temperament." Die
Fontainebleauer hatten die Natur so gemalt, wie ihre individuelle Seelenstimmung sie empfand;
die Impressionisten malten sie, wie ihr individuelles Auge sie sah. Nichts falscher, als der


(Gazette des Beaux-Arts)

modernen Malerei prinzipiell Mangel an
Phantasie und Empfindung vorzuwerfen.
Der Irrtum entstand daraus, daß sie als
Malerei im eigentlichsten Sinne von nichts
anderem als der sinnlichen Empfänglichkeit
für Farbe und Licht ausging. Aber das
Wesen aller Kunst beruht auf der Ver-
feinerung, Läuterung und Ordnung sinn-
licher Wahrnehmungen. Die Impressionisten
suchten allerdings auf das Gefühl lediglich
durch das Spiel der Farbe zu wirken, sie
verzichteten bewußt auf jeden verstandes-
mäßigen oder literarischen oder auch nur
lyrischen Effekt, sie suchten einen Eindruck,
der sich höchstens mit dem Eindruck der
Musik vergleichen läßt, und ihre Phantasie
 
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