Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Springer, Anton; Osborn, Max [Editor]
Handbuch der Kunstgeschichte (Band 5): Das 19. Jahrhundert — Leipzig, 1909

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.30792#0426
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
364

Vierter Abschnitt: 1870—1900.

demütiger Abhängigkeit, sondern in freier Neigung. Der erfindungsreichen, kraus-phantastischen
Zeichenkunst der Altdeutschen folgen der Böhme Hans Schwaiger (geb. 1854) und der Ber-
liner Josef Sattler (geb. 1869, Abb. 391). Mittelalterliche gotisch-romanische Motive klingen
bei Melchior Lechter (geb. 1865) nach, wiederum vom Präraffaelismus der Engländer an-
geregt (Die Weihe am mystischen Quell, Kölner Kunstgewerbemuseum), Überall trat der Farbe
die Linie, dem Realismus ein neuer Idealismus entgegen, der die Sichtbarmachung geistiger
Vorgänge nicht mehr verschmäht. Der Zusammenhang wird aufs neue klar, der die Gegen-
wart mit der Vergangenheit verknüpft und sie als Glied in die große Entwicklung der Weltb-
und Kunstgeschichte einreiht. Neben die Wirklichkeitskunst tritt ergänzend eine neue Romantik,
die ihre Anschauungen nicht nur dem äußeren, sondern auch dem inneren Blick verdankt, in
Erinnerungen und Beziehungen des Nahen und Fernen schwelgt und wieder den Ahnungen
und Träumen nachgeht, die in jedes Sterblichen Brust schlummern. Doch die strenge Schulung,
die der malerische Ausdruck durchgemacht hat, schuf für diese Träume und Phantasien ganz
neue Bedingungen und schützt sie davor, daß sie sich in allzu luftige Höhen versteigen. Der
Trieb zu einer Kunst, die an die geheimen Tore des Empfindens pocht und alle verborgenen
Gesichte weckt, wird nie schwinden in Deutschland; er ist mit den tiefsten und eigensten Zügen
unseres Wesens verkettet. Aber wir haben erkannt, daß Malerei zu Anfang und zu Ende die
Sprache der Farbe ist, geboren aus der gesteigerten und kultivierten sinnlichen Anschauung von
den Erscheinungen. Und diese Erkenntnis wird uns, zu unserem Glück, ein unverlierbares
Besitztum bleiben.

891. Schlußstück, von Joseph Sattler.


Z. Die Malerei der übrigen Völker.
Wenn auf den folgenden Seiten die Entwicklung der Malerei während des letzten
Menschenalters in den übrigen Ländern, außerhalb Deutschlands und Frankreichs, in einem
Überblick dargestellt werden soll, so gebietet die Rücksicht auf die Ökonomie dieses Handbuchs
eine Beschränkung auf das Wichtigste. Die Ungerechtigkeit, die dadurch begangen wird — denn
manche der anderen Nationen hat in der Kunstgeschichte dieses Zeitabschnitts gewiß keine ge-
ringere Rolle als Deutschland gespielt —, wird der deutsche Leser gern mit in den Kauf
nehmen. Aber wenn wir auch die Schicksale der Kunst in unserem Vaterlande mit besonders
eingehender Ausführlichkeit behandelt haben, so werden wir uns doch keinen Augenblick darüber
täuschen, daß Deutschland bei strengster Abwägung diese herrschende Rolle in einer Darstellung
der modernen Kunst kaum beanspruchen könnte. Es wäre ein schlimmer Fehler, wenn wir
verkennen wollten, daß es um die ästhetischen Dinge bei uns immer noch erheblich schlechter
bestellt ist als bei der Mehrzahl der anderen Nationen. Wir werden unser Volk darum nicht
 
Annotationen