Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Springer, Anton; Osborn, Max [Hrsg.]
Handbuch der Kunstgeschichte (Band 5): Das 19. Jahrhundert — Leipzig, 1909

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.30792#0540
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
472

Vierter Abschnitt: 1870 — 1900.

tischen, schottischen (Macintosh) und japanischen Ele-
menten schusen sie sich ein System neuer Schmuck-
formen von einer etwas Preziosen, aber unge-
mein zierlichen und geschmackvollen Einfachheit, für
welche die fparsam in freie Flächen gesetzten, kreis-
förmigen oder viereckigen Zierstücke und Ornamente,
die geradlinige Rechteckigkeit der Umrisse, die aus ganz
schlichten Mustern, am liebsten Ton in Ton gewebten
Stoffe charakteristisch find. Olbrich ward dann von
Wien nach Darmstadt berufen, in die Künstlerkolonie
des Großherzogs Ernst Ludwig. Dort war eiue
Zeitlang auch Peter Behrens (geb. 1868,
Abb. 529), tätig, der nachher in Düsseldorf die
Leitung der Kunstgewerbeschule übernahm und von
dort nach Berlin übersiedelte. Paul Schultze-
Naumburg (geb. 1869), ein fruchtbarer Anreger
ans vielen Gebieten, gründete bei Kosen die „Saal-
ecker Werkstätten", in deren Arbeiten die allgemein
modernen Formen durch eine stärkere Anlehnung an
die deutsche Architektur und die bürgerliche Wohnhaus-
einrichtung der ersten Hälfte des Jahrhunderts modi-
fiziert erscheinen (Abb. 530). Auch Weimar, das
schon einmal, zur Jugendzeit Böcklins, Begas'
und Lenbachs, den Versuch gemacht hatte, ein
Mittelpunkt deutschen Kunstlebens zu werden, wurde
eine Zufluchtsstätte aller modernen Gedanken. Hier
fanden sich Hans Olde, Ludwig von Hofmann, Adolf Brütt ein, und mit ihnen van de Velde,
der längst in Deutschland heimisch geworden ist und nun in der thüringischen Hauptstadt eine
rege Tätigkeit entfaltet. Von Bedeutung ward schließlich im Jahr 1907 die Begründung des
„Deutschen Werkbundes", der im Gegensatz zu der früher vorherrschenden wirtschaftlichen Be-
handlung der Angelegenheiten des Handwerks und Kunstgewerbes die Pflege der künstlerischen
Tätigkeit der einzelnen Kunsthandwerker wie der kunstgewerblichen Firmen auf sein Programm
setzte und alle Kräfte und Persönlichkeiten zusammenzuschließen sucht, deren Streben sich in
dieser Richtung bewegt. Eine alle Bundesstaaten umfassende Vereinigung der praktischen Arbeit
trat daneben: die „Deutschen Werkstätten für Handwerkskunst", hervorgerufen durch die vordem
unbekannten Riefenaufgaben, welche die großen deutschen Schifssgesellschaften, zum neuen Ge-
schmack bekehrt, dem aufblühenden Kunstgewerbe stellen.
Die Übertreibungen blieben nicht aus. Die neue Freude au den Resten der Biedermeierzeit
artete in eine unerträgliche Biedermeierei aus, die lediglich mit Kopien wirtschaftete, die miß-
verstandene geschwungene Linie der Belgier führte zu den schrecklichen Bandwürmern, die der
Schrecken jedes Kunstfreundes sind, die japanische Blumenstilisierung der Münchner zu dem
von der Industrie in Umlauf gebrachten „Jugendstil", der ungeheure Verirrungen und Ge-
schmacksverwilderungen im Gefolge hatte. Aber der Kern der neuen Errungenschaften wird
dennoch unverloren bleiben, und schon heute hat sich aus mancherlei Unsicherheit und Ver-
wirrung ein von Spielerei und Snobismus völlig freier, aus den Anforderungen der Praxis
und der künstlerischen Durchdringung des Handwerksbetriebes entstandener deutscher Stil entwickelt.

531. Tänzerin, modelliert von Leonard.
Sövres - Porzellan.
 
Annotationen