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Einleitung.

des Atheismus; sie suchen die Staatsgewalt zu überreden, die freie Forschung nage an
der Lebenswurzel der Gesellschaft. Man sollte meinen, gerade vor den ernstesten
Fragen sei das Wort „Prüfet alles" am meisten angebracht. Aber diese Prüfung
möchten die Eifrigsten am liebsten durch die Staatsgewalt ganz verhindert sehen;
andere treten zwar in die wissenschaftliche Arbeit ein, verbieten sich jedoch selbst, die
Forschung über gewisse, von den Ämtern ihrer Religionsgenossenschaft gezogene
Grenzen hinauszuführen, sie halten an dem Punkte inne, wo ihre Ergebnisse in Wider-
streit geraten mit dem vom Genossenschaftsamt befohlenen Fürwahrhalten.1)

Demgegenüber muß immer wieder, nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, die
unbedingte Pflicht der wissenschaftlichen Forschung betont werden. So-
lange noch Eide geschworen werden, für solange sollte der Doktoreid in angemessener
Formel wieder eingeführt werden; kommt es aber einmal zur Abschaffung des Greuels
der Selbstverwünschung, dieses Nachlebsels heidnischer Religiosität („die Erde öffne
sich und schlinge mich hinab, wenn ich Unwahres euch berichte"), so bleibt die Selbst-
verpflichtung übrig, für den Doktoranden die Selbstverpflichtung auf die unbedingte
Forschung. Sie geht dahin, dem Grundsatz getreu den Weg der Forschung fort-
zusetzen, nicht beschränkt durch irgend ein Imperium, noch von irgend einer vor-
gefaßten Meinung. Nur dies ist der übrigens allen bekannte Sinn des Schlagwortes
von der „voraussetzungslosen" freien Wissenschaft.

Gegen den Satz von der voraussetzungslosen Wissenschaft ist der Einwand er-
hoben worden, sie sei in Wirklichkeit gar nicht so voraussetzungslos, wie ihre Wort-
führer sich gebürdeten; im Gegenteil, diese sich frei nennenden Gelehrten ständen
tatsächlich im Banne vorgefaßter Meinungen, ihrer Weltanschauung und sonstiger
Vorurteile.

Der Streit ist leicht zu schlichten durch die notwenige Unterscheidung zwischen
den einzelnen Gelehrten und der Wissenschaft selbst. Es ist gewiß richtig, die ein-
zelnen Gelehrten sind Menschen, dem Gesetz der Kausalität unterworfen, insoweit
Produkte der Gesellschaft, der sie entstammen, durch Erziehung, Unterricht und Ver-
kehr mit fertigen Urteilen und Anschauungen, also in der Tat mit Vorurteilen an-
gefüllt, ehe sie an den Arbeitstisch nur herantreten. Aber die Wissenschaft selbst ist
frei davon. Die Wissenschaft selbst, das will sagen, wie sie dem Arbeiter zur Auf-
gabe gestellt ist: den Weg der Forschung zu gehen, aufrichtig und ohne Vorbehalt,
rücksichtslos alle entgegenstehenden Meinungen beiseite zu setzen, vor allem diejenigen,
welche er selbst mitgebracht hat aus Familie und Verkehr, aus Schule und Kirche,
oder woher immer. Die Wissenschaft hat ihr Gesetz, aber nur in sich selbst; das ist
ihre Freiheit. Aber Freiheit bedeutet Selbstverantwortung; der Gelehrte genügt seiner
Verantwortlichkeit, indem er das Gesetz der Wissenschaft achtet und das Gebot der
Wissenschaftlichkeit erfüllt, die unbedingte Pflicht der Forschung ohne Vorbehalt.

Die Wissenschaft muß den Fragen auf den Grund gehen; in diesem Sinne ist

') Atheismus: Leclercq bei Cabrol, Dictionnaire I 1903, 275. — „Prüfet alles": Kant,
Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur ersten Ausgabe 1781: „Unser Zeitalter ist das eigentliche
Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Keligion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetz-
gebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen
sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen,
die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten
können."
 
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