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Die altisraelitisehe Literatur.

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Die altisraelitische Literatur.

Die Schriftquellen, deren wir zum Verständnis der altchrißtlichen Kunst bedürfen,
finden sich zunächst in der altchristlichen Literatur; bei dem engen Verhältnis aber,
welches zwischen dem Christentum und dem Israelitismus besteht, ist es nötig, auch
die israelitische Literatur heranzuziehen. Die griechisch redenden und schreibenden
Christen haben sich nicht der hebräischen Bibel selbst bedient, sondern ihrer
griechischen Übersetzung; sie ist dem klassischen Philologen ohne weiteres zugänglich.
Aber er muß auch mit den kritischen Forschungen auf dem alttestamentlichen Gebiete
vertraut sein, welche zur Rückverwandlung des biblischen Kanons in den ursprüng-
lichen Zustand des hebräischen Schrifttums führen, in den einer geschichtlich ge-
wordenen Literatur. Zur ersten Orientierung geben wir einen kurzen Uberblick; er
umfaßt die altisraelitische Literatur in ihrem ganzen Umfange, mit Einschluß also
auch der vom Kanon ausgeschlossenen Schriften.

Die Kritik der alttestamentlichen Schriften richtet sich auf Ermittelung der
wirklichen Entstehungszeiten ihrer Bestandteile.

Kritik ist Unterscheidungskunst, methodische Unterscheidung des Verschiedenen.
Die alttestamentlichen Schriftsteller sind ausgeprägte Individualitäten und eben deshalb
verschieden genug in Vorstellungen und Absichten, in Sprache und Stil, um an solchen
Kennzeichen voneinander unterschieden zu werden. Dazu hängt ihre Entstehung wie
ihre Tendenz mit Vorgängen der politischen und Religionsgeschichte Israels eng
zusammen. Die Kritik hat viel erreicht. Auf Grund jener Kennzeichen vermochte
sie die Zeiten, z. B. der prophetischen Schriften in engeren oder weiteren Grenzen
festzustellen, auch wo sie ihre Ursprungszeiten nicht selbst oder nicht zuverlässig an-
geben. Aber noch mehr. Das Altertum kannte den Begriff des geistigen Eigentums
noch fast gar nicht. Einerseits schrieben spätere Schriftsteller die früheren aus, ohne
sich der Mühe einer Neubearbeitung des Gegenstandes zu unterziehen; dann heben
sich die unveränderten Bruchstücke älterer Schriftstellerei aus der jüngeren Umgebung
kennbar heraus. Solche ältere Bestandteile herauszuschälen und ihrem Eigendasein
zurückzugeben ist eine Hauptaufgabe der Kritik bei den historischen Büchern des
alten Testaments. Andererseits fand man kein Arg darin, eigne Erzeugnisse unter
dem Namen eines älteren Autors herauszugeben, in dessen Geist man zu schreiben
genieint war; oder der Sammlung von dessen Schriften Stücke einzureihen, die irgend-
wie ihm verwandt schienen, ohne doch von ihm verfaßt zu sein. So sind in die ge-
sammelten Schriften des Jesaias viele jüngere Stücke eingereiht worden, die es nun
auszuscheiden und auf ihre Ursprungszeit zu bestimmen gilt. Weder diese Inter-
polationen noch jene Pseudepigraphen sind als Fälschungen zu bezeichnen, weil eine
eigennützige Absicht nicht dabei obwaltete; aber es sind tatsächlich Entstellungen der
geschichtlichen Wahrheit, welche der Berichtigung bedürfen. In Ausübung dieser
Funktionen leistet die Kritik positive Arbeit; sie schafft neue Werte, indem sie mit
dem Zauberstab des methodischen Unterscheidens ganze Reihen literarischer Werke, die
bisher im Kanon verschüttet lagen, zu neuem Leben auferstehen läßt und eine zuvor
nicht geahnte Doppelkette literarischer Produktion vor uns aufrollt, die eine von
historischen, die andere von prophetischen Büchern um nur die Hauptgattungen hier
zu nennen. Erst durch die Kritik ist aus der „Bibel" eine Literatur wiedererstanden.
 
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