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Wesen und seiner seelenvoll harmonischen, harmonisch be-
seelenden Kunst besteht? Ist sie uns aber nicht vielleicht
eben deshalb so theuer und wahlverwandt? Gleicht unsre
Neigung zu Raphael nicht dem platonischen Seelenzug zum
Urbild? Und ist unsre Liebe nicht eben darum so mächtig,
weil wir ihm um so viel ferner stehen als die Romanen?
Es ist ein ähnliches Verhältniß wie zur Autike, zum alten
Griechenthum. Sehnsüchtige Geisterschaaren ziehen über den
ewigen Schnee nach den seligen Inseln, reingezognen Buchten.
Nicht immer freilich mögen so schroffe Unterschiede zwischen
Dort und Hier gewaltet haben. Unsre Urväter mögen frischer
gewesen sein, vollblütiger und höher gemuthet als wir. Aber
die deutsche Volksnatur ist doch wohl von Hause her be-
sonders scharf individualisirt, besonders einseitig nach Innen
gerichtet und gebannt, ausnehmend schwerfällig, ungeschlacht,
ethisch ringend, von nordischer Luft gehemmt wie ge-
stählt, gehemmt vor Allem nach der Seite unmittelbarer,
frei natürlicher Emanation und Entfaltung. Wie sehr
zudem die ursprüngliche Kraft und Kühnheit durch das
Verhängniß unsrer Geschichte beschränkt und verkümmert
wurde, ist kaum zu ermessen. Und eben damit hängt es
gewiß hauptsächlich zusammen, daß deutscher Sinn sich so
ungern herauslüßt und voll gibt, daß es deutschem Auge
so besonders schwer fällt, den Geist der Erscheinung zu
schauen, die Kunst als solche zu genießen, daß es vor pein-
licher Rechts- und Sittenhut, harter Zweckarbeit, strenger
Abwägung zwischen Gut und Bös in künstlerischer Beziehung
stumpf und schwachsichtig geworden ist. Aber, wie gesagt,
je schwerer dieser Mangel empfunden wird, um so tiefer
 
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