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regt sich auch die Sehnsucht nach freiem Einklang, frieden-
voller, göttlich beschwingter, strahlender Bildlichkeit. So
darf ich wohl sagen: der seltene Geist Raphael ist uns
ebenso verwandt wie fremd. Er ist unsrer Weltphantasie
zu eigen geworden, als ein Nachfolger und Genosse der
Lieblingsgestalten unsrer Mythologie und Sage, unsrer
Musik und Dichtkunst, als ein unschuldschöner, allerfreuender
Lichtgeist wie Balder, als ein hellmüthiger, gefeiter Jugend-
held wie Siegfried, als ein andrer Mozart und Göthe.
Von unsrem Sommer- und Segensgotte Balder heißt es:
„Er ist so schön von Antlitz und so glänzend, daß ein
Schein von ihm ausgeht. Er ist der weiseste, beredteste
und mildeste von allen Äsen. Er bewohnt im Himmel die
Stätte, die Breidablick, d. h. Weitglanz, genannt wird. Da
wird nichts Unreines geduldet." - — Ich setze nichts hinzu.
Jeder, der Raphael und seine Kunst wahrhaft erlebt hat,
wird verstehen, warum ich diese Worte zitire.
Doch ich will innehalten im Verfolgen solcher Ana-
logien, Zumal der in mythologischer Sphäre, denn so idea-
listischen, weltgnltigen Charakter Raphaels Kunst hat, so bin
ich nichtsdestoweniger überzeugt, daß sie doch mehr persön-
liche Bestimmtheit und Eigenart besitzt, als gemeinhin an-
genommen wird. Hoher Ruhm verklärt, lorbeerwuchernder
Tod vergöttlicht das Bild des Weggerafften. Das ideale,
typische Vermögen, welches Völker der Erde zur Andacht
hinreißt, verbreitert sich als solches im Glanz und Schimmer
der Fortwirkung, so daß gerade das Eigenste der Persön-
lichkeit, wie das Lebensnahe, Hauchende ihres Daseins, vor
dem Gedächtniß schwindet und genereller Ermessung den
 
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