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Der Mensch Herwarth Walden

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Diwan. Über dem Schreibtisch hing eine große runde Gipsplakette mit dem
Kopf von Franz Liszt. Aber das Portrât war unkenntlich gemacht worden
durch Kokoschka, der mit Feder und Farben aus Liszt ein Selbstbildnis von
sich hingezaubert hatte. Die Farben waren Schwarz, Rot und Weiß. Über
dem Diwan hing Kokoschkas großartiges Porträt von Flerwarth Walden.
An einer Seitenwand sah ich, auf eine Ebenholzplatte montiert, die schône
Hand von Karl Kraus in gelblichem Gips. Die jahrelange Freundschaft zwi-
schen Walden rmd Kraus war aber damals bereits zu Ende. Als wir zu An-
fang des Jahres 1913 in Wien waren, wo rnich Walden seinen Wiener
Freunden als seine junge Frau vorsteilte, vor allem Kokoschka und dem
Wiener Architekten Adolf Loos, machte mich eines Abends Kokoschka im
Café Central, wo die Wiener Künstler sozusagen den Tag und die Nacht
verbrachten, auf einen einsamen Mann aufmerksam, der in einer Ecke des
Cafés hinter einem Stoß Zeitungen saß, und sagte: >Das ist Karl Kraus.<
Eine Annâherung fand aber nicht statt.

Ein Hauptzug in Waldens Wesen war das restlose und intensivste Auf-
gehen in der Gegenwart, im Heute. Er legte tâglich und Schritt um Schritt
die Vergangenheit ab. Er liebte keine Erinnerimgen, weder glückliche noch
traurige. Eine vielleicht beneidenswerte Fâhigkeit; denn Erinnerungen
kônnen beglücken, aber ebenso oft auch bedrücken. Und sie beanspruchen
viel seelische Kraft. Selten habe ich von ihm etwas über sein früheres Leben
erfahren. Allerdings gehôre ich auch nicht zu den Menschen, die fragen. Ich
glaube aber, daß Menschen, die die seltene Veranlagung haben, Vergange-
nes zu vergessen, mehr Kraft für das Jetzt aufbringen als wir andem, die
wir uns mehr oder weniger mit unseren Erinnerungen beschâftigen.

Viele Menschen hatten sofort ein starkes Gefühl der Zuneigung zu Wal-
den. Er war ungewöhnlich suggestiv und rechnete auch mit seiner Fâhig-
keit, auf Menschen einzuwirken. Andere hatten Angst vor ihm. Sie emp-
fanden etwas fast Unmenschliches an ihm oder etwas so Eigenartiges, daß
es ihnen Unlustgefühle verursachte. Aber auch das wußte er einzukalku-
lieren.

Sein messerscharfer Verstand, seine Angriffslust und stete Kampfbereitschaft
standen in starkem Gegensatz zu einem anderen Teil seiner Natur, der sehr
weich und fast eine Art Traumzustand oder Trance war. Diese Wesensart
kam in seiner Musik, in seinen Gedichten und auch in seinen Dramen
zum Ausdruck.
 
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