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VI. Der Tierfries der zweiten Thorsberger Scheibe
und die seeländischen Silberkelche.

Die erste Thorsberger Scheibe mit der Darstellung des Mars und der Gans gab sich als
ein Erzeugnis einer niedergermanischen Werkstatt des Sacirokreises aus der Zeit um
200 n. Chr. zu erkennen. Auch die zweite Scheibe des Thorsberger Fundes stammt in ihrer
ursprünglichen Form aus dieser provinzialrömischen Werkstatt. Das mit einem Tierfries
verzierte Blech, welches jetzt die Randzone dieser Scheibe schmückt, erwies sich dagegen
als eine spätere Zutat von der Hand eines völlig andersartigen Meisters, der seine Werke
nicht in der römischen Provinz, sondern im freien Germanien schuf. Es bleibt nun zu unter-
suchen, in welcher Gegend, zu welcher Zeit und unter welchen Verhältnissen dieser ger-
manische Künstler arbeitete. Der Versuch, die Stellung zu klären, die seine Arbeit im
Kunstgewerbe Germaniens einnimmt, führt zu einer Gruppe bisher nur wenig beachteter
Kunstwerke, welche das Aufkommen einer eigenen germanischen figürlichen Verzierung
erkennen und damit einen Vorgang von großer Tragweite in der Entwicklung der ger-
manischen Kunst näher verfolgen lassen. Die reichen germanischen Grab- und Siedlungs-
funde der ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderte erlauben zwar, für die ältere Kaiser-
zeit das Vorhandensein einer hochstehenden Töpferei und eines entwickelten Waffen-
schmiede- und Metallhandwerks festzustellen. Sie erbringen aber keine Anhaltspunkte
dafür, daß die germanischen Stämme dieser Zeit in ihrem Kunstgewerbe die Darstellung
von Mensch und Tier als wesentliche Bestandteile für die Verzierung von Schmuck, Keramik
und anderen Gegenständen des täglichen Lebens ansahen1). Vielmehr ist aus dem uns
überkommenen Fundstoff zu folgern, daß das germanische Kunstgewerbe der älteren
Kaiserzeit figürliche Darstellungen ablehnte und, wie besonders die Keramik zeigt, bei
der lineargeometrischen Ornamentik älterer Perioden verharrte. Da andererseits die ger-
manische Kunst der Völkerwanderungszeit in hervorragendem Maße durch die Tierorna-
mentik bestimmt wird, ist es von Wichtigkeit festzustellen, wann und wo im freien Ger-
manien der Grundsatz der Bildlosigkeit in der Verzierung durchbrochen wurde und auf
welche Einflüsse die Aufgabe dieses Grundsatzes zugunsten einer figürlichen Verzierung
zurückzuführen ist. Die Bedeutung der zweiten Thorsberger Scheibe und der Kunstwerke,
welche sich an sie anschließen lassen, scheint uns gerade darin zu liegen, daß ihre Be-
trachtung zur Aufhellung dieser Fragen erheblich beitragen kann.
Auf die enge Zusammengehörigkeit des Tierfrieses dieser Scheibe mit den acht innen
auf der Randzone der ersten Thorsberger Scheibe aufgesetzten Tieren war bereits hin-
gewiesen worden (vgl. S. 7). Diese Tiere sind aus verschiedenen vergoldeten Silberblechen
ausgeschnitten und wurden nachträglich auf die Scheibe aufgenietet. Sowohl die beiden
Vierfüßler (Taf. 7, 5 u. 8) wie die beiden Vögel (Taf. 7, 2—3), die doch am ehesten Gänse

J) Das Vorkommen vereinzelter Tierdarstellungen auf älterkaiserzeitlicher Keramik im freien Germanien (vgl. B.
Gutjahr, Die Semnonen im Havelland zur frühen Kaiserzeit [1934] Taf. 4 u. R. v. Uslar, Westgerm. Bodenfunde [1938]
139 u. Taf. 14, 10) und das Auftreten von Tierkopfenden an Trinkhömem (O. Kunkel, IPEK 1931, 69 mit Taf. 1) blieb
stets vereinzelt und wirkungslos.

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