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II. Die neue Schönheit.

Wenn man sagt, es sei ein neuer Stil emporgekommen, so denkt
man immer zuerst an eine Umformung der tektonischen Dinge. Sieht
man aber näher zu, so ist es nicht nur die Umgebung des Menschen,
die grosse und kleine Architektur, nicht nur sein Gerät und seine
Kleidung, die eine Wandlung durch gemacht haben, der Mensch selbst
nach seiner Körperlichkeit ist ein anderer geworden und eben in der
neuen Empfindung seines Körpers und in der neuen Art, ihn zu tragen
und zu bewegen, steckt der eigentliche Kern eines Stiles. Dabei ist
dem Begriff freilich mehr Gewicht zu geben als er heutzutage hat.
In unserem Zeitalter wechselt man die Stile wie man bei einer Maskerade
ein Kostüm nach dem andern durchprobiert. Allein diese Entwurzelung
der Stile datiert doch erst seit unserem Jahrhundert und wir haben
eigentlich gar kein Recht mehr von Stilen zu sprechen, sondern nur
noch von Moden.

Die neue Körperlichkeit und die neue Bewegung des Cinquecento
offenbart sich in aller Deutlichkeit, wenn man ein Bild wie Sartos
Geburt der Maria von 1514 mit den Fresken Ghirlandajos und seinen
Wochenstuben vergleicht. Das Gehen der Frauen ist ein anderes
geworden. Statt des steifen Trippeins ein getragenes Wandeln: das
Tempo hat sich verlangsamt zu einem andante maestoso. Nicht mehr
die kurzen raschen Wendungen des Kopfes oder einzelner Glieder,
sondern grosse lässige Schiebungen des Körpers und statt des Gespreizten
und Eckigen das Gelöste und die langatmige, rhythmische Kurve. Das
trockene Gewächs der Frührenaissance mit den harten Formen der
Gelenke entspricht nicht mehr der Vorstellung von Schönheit, Sarto
giebt die üppige Fülle und die prachtvolle Breite des Nackens. Und
schwer-massig, schleppend fallen die Gewänder, wo Ghirlandajo kurze,
steife Röcke, knappanliegende Ärmel hat. Die Kleidung, die dort der
Ausdruck der raschen gelenkigen Bewegung war, soll jetzt in ihrer
Fülle retardierend wirken.
 
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