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sich entwickelt, in welchem Grade es twn Wind und Wetter zu leiden
hat, ob und von welchen Tieren es heimgesucht wird — all diese und
andere Umstände haben einen größern oder geringern Anteil an der
Gestaltung des Blattes.

Doch nicht die reiche Fulle der Pslanzeuformen allein ist es, das;
dieselben vorzugsweise als Vorbild des menschlichen Kunstgeistes er-
scheint. Ein anderer Grund ist der, daß der Mensch den Pflanzen
bedeutend näher steht als den Gebilden des Mineralreiches. Diese, an
starre Formen gebunden, lassen ihn kalt, während die Pslanze ein
„Leben" zeigt, welches mit dem seinigen in allen Wandlungen des-
selben, im Wachsen, Entsalten, Abnehmen und Vergehen ewig liberein-
stinrmt.

Wenn aber diejenigen Naturgegenstünde, die ein Leben zeigen,
wichtige Elemente in ästhetischer Beziehung sind, so hätte gerade das
Tierreich um so mehr die Vorbilder fnr die verschiedenen Kunstsormen
abgeben müssen. Allein dem ist nicht so. Die Anschauung vieler Völker,
daß die Seele des Menschen nach seinem Tode eine Wanderung im
Tierkörper dnrchmachen müsse, also die sromme Scheu vor dem Tiere,
mag bestimmend gewesen sein, keine Motive zu symbolischen Kunstsormen
aus der Tierwelt zu nehmen. Andernteils trug auch der Vergleich, den
der Mensch zwischen sich nnd dem Tiere anstellte, viel hierzu bei. Durch
jenen Vergleich gelangte er zu der Erkenntnis, daß das Tier nach Leib
und Seele hin aus einer bedeutend niedrigern Stnse steht, als er selbst.
Der Nmstand ferner, daß der Mensch den Trieben des Tieres Absicht
nnd Bedeutung verlieh, älso in den Lebensäußernngen des Tieres eine
karikaturenhafte Nachahmung seiner Willensäußerungen sah, verbitterte
dem Menschen in gar vielen Fällen die Freude an der natürlichen
Schönheit der animalischen Gebilde nnd machte, daß er sich lieber in
dem Bilde der sansten Blume sah, als in dem Spiegel des bissigen
Tieres fand, an das er sich, ihm zu nahe verwandt, nicht gern erinnern
ließ, dem stolzen, reichen Vetter gleich, der seinem ärmern Verwandten
iricht gern aus seinem Lebenswege begegnet.

So ist es denn gekommen, daß die Pflanzenwelt sich in ihrer jähr-
lich sich erneuernden Schönheit in der Architektur, Ornamentik, der
Malerei und dem Kunstgewerbe durch alle Stilperioden der Kunst hin-
durch in großer Lebendigkeit wiederspiegelt, und daß die Natur in ihrer
Blatt- und Blütenbildung vorzugsweise als Vorbild des menschlichen
Kunstgeistes erscheint.
 
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