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Wurzbach, Alfred von [Bearb.]
Niederländisches Künstlerlexikon: mit mehr als 3000 Monogrammen (Band 3): Nachträge und Verzeichnis der Monogramme — Amsterdam, 1911

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https://doi.org/10.11588/diglit.18168#0193
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Die anonymen Meister.

183

I.

Bevor wir auf die anonymen nieder-
ländischen Maler und Kupferstecher näher
eingehen, müssen wir über die Fortbil-
dung künstlerischer Ideen in vergangenen
Jahrhunderten einige erklärende Worte
sagen. Es ist unmöglich, unsere gegen-
wärtigen Lebensverhältnisse als Maßstab
zur Beurteilung älterer Gepflogenheiten
anzunehmen. Wenn wir auch die Phrase
von der „tiefen künstlerischen Durch-
drungenheit aller Phasen des bürgerlichen
und öffentlichen Lebens im Mittelalter"
oft lesen und hören, so reservierte das
bürgerliche und öffentliche Leben jener
Zeit, bei genauer Betrachtung, den künst-
lerischen Schmuck nur für einen ganz
kleinen Kreis der auserwählten Feudalen
und Machthaber. Abgesehen von dem ein-
zelnen Individuum, welches selbst der
schöpferische und ausübende Teil zum
Ruhme und zur Verherrlichung der besit-
zenden Klasse und der Kirche war, hatte
das übrige Volk im großen und ganzen
kaum eine Ahnung davon, daß es etwas
wie „Kunst" zur Verfeinerung der Lebens-
bedürfnisse geben könne. Von den Turnie-
ren, Aufzügen, Maskeraden, dem fabel-
haften Aufwand von Reichtum in Kirchen-
gewändern und Reliquienschreinen hatte
die Masse nur die unvollkommene Vor-
stellung, wie eine solche etwa der Land-
bewohner von heute erlangen kann, wenn
er dem aufdringlichen Pomp einer Kir-
chenfeierlichkeit in der Stadt beiwohnt.
Kunstwerke zu besitzen und damit die
Kunst zu genießen, war in weit höherem
Maße ein Vorrecht der privilegierten Klas-
sen als heute, wo unzählige Revuen, illu-
strierte Journale, vorzügliche Vervielfälti-
gungsmethoden und eine große Konkurrenz
die künstlerischen Schöpfungen in alle
Welt tragen und sie. wenigstens der Idee
nach, in einer wenn auch unvollkommenen
Wiedergabe, auch in der letzten Hütte
bekannt machen können. Derlei existierte
vor hundert und mehreren hundert Jahren
durchaus nicht und in der Nacht des
Mittelalters, oder sprechen wir nur von
der Nacht des 15. Jahrhunderts, reich wie
kein anderes an künstlerischen Impulsen,
war vor Erfindung des Buchdrucks, zu
einer sogenannten künstlerischen
Erziehung des Volkes weder der Ge-
danke vorhanden, noch die Möglichkeit
geboten. Kunstwerke jeder Art existier-

ten nur für den Besteller und Besitzer,
für den Fürsten, Landesherrn, den Bi-
schof, den reichen Klerus, zuweilen auch
für den reichen Kaufmann und hochge-
stellten Beamten, mit einem Worte, für die
privilegierten Klassen. Gemälde, wenn sie
in fürstlichem Privatbesitz waren, blieben
unzugänglich für jedermann; Gemälde im
Besitze einer Kirche waren, wenn sie sehr
kostba.r, nur gegen Bezahlung oder an
hohen Festtagen zu sehen; Miniaturen,
die Schätze reicher Bibliotheken, waren
vollständig unzugänglich, und selbst die
Masse der Scholaren und Gelehrten hatte
nur in den seltensten Fällen Kenntnis von
ihrer Existenz. Auch das größte Kunst-
werk der Niederlande, der Altar der Brü-
der van Eyck, konnte niemals jenen Ein-
fluß auf die Massen üben, den heute irgend
eine hervorragende religiöse oder profane
Schöpfung sofort betätigt, wenn sie durch
Photographie. Lichtdruck. Journalillustra-
tion jedem gebildeten Laien bekannt ge-
macht wird. Kunstwerke, welcher Art
sie sein mögen, wirken auf die Vor-
stellimgs- und Gestaltungskraft des In-
dividuums nur durch das Auge; da sie
aber nur in den seltensten Fällen und da
nur für kurze Zeit gesehen werden konn-
ten, so war ihr Einfluß ein äußerst be-
schränkter. Öffentliche Galerien und Mu-
seen existierten nicht und der Besucher
einer Kathedrale empfing zwar einen kon-
fusen Eindruck von kirchlichem Pomp,
aber einen ganz flüchtigen und unwesent-
lichen von der künstlerischen Bedeutung
irgend eines Dombildes oder ähnlichen
Kunstwunders. Die Domschätze von Cöln,
Aachen und hundert anderen Kathedralen
sind auch heute nur gegen ein gar nicht
unbedeutendes Eintrittsgeld zu sehen und
als Objekte künstlerischer Befruchtung
kommender Generationen spielen sie absolut
keine Rolle oder nur eine unwesentlich
bessere, als jene Kunstwerke, die gar nicht
zugänglich waren. Der Zirkulation künst-
lerischer Ideen war somit kein so großer
Spielraum gewährt, als man heute, nach
dem Zeiträume von vier oder fünf Jahr-
hunderten, glauben könnte. Der Künstler
konnte fremde Eindrücke nicht aufneh-
men, weil er sie nicht empfangen konnte,
weil es weder Galerien, noch Akademien,
Museen oder illustrierte Bücher, Photo-
graphien oder Lichtdrucke und auch keine
Eisenbahnen gab, welche ihm den Orts-
wechsel ermöglicht hätten. Er war immer
 
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