PSYCHOLOGISCHE UND NORMATIVE ÄSTHETIK. 15
Er sagt: »Nicht um faktische Allgemeinheit handelt es sich — das
wäre der Fall von naturgesetzlicher Notwendigkeit —, sondern um das
Verlangen der allgemeinen Geltung«x). Windelband hat damit ohne
Zweifel ein Merkmal richtig formuliert; wir glauben aber, daß dieses
eine Merkmal nur im Zusammenhange mit den anderen von uns oben
hervorgehobenen Bedeutung hat, nur da, wo außer dem Verlangen
der allgemeinen Geltung noch andere Bedingungen vorhanden sind,
die uns für die Berechtigung dieses Verlangens bürgen. Das Ver-
langen allein kann nie eine solche genügende Garantie hervorzaubern;
es ist bloß ein seelischer Zustand, wie jeder andere, der einfach fest-
zustellen ist. Er allein aber kann nie ein erkenntnistheoretischer Grund
sein. Unsere Aufgabe besteht in diesem Falle darin, zu untersuchen,
ob nicht vielleicht dieser Zustand des Verlangens eine erkenntnis-
theoretische Täuschung sei, die auf unerlaubter und nur psychologisch
bedingter Übertragung eines Merkmals auf anderweitige Tatsachen
beruht, oder gar ein Symptom jener Unduldsamkeit, die ihre eigenen
Gefühlsreaktionen für die einzig richtigen und »normalen« hält. Auch
in der Erkenntnistheorie geht man nicht bloß von dem Verlangen der
allgemeinen Geltung aus. Denn auch die Erkenntnistheorie begründet
bloß die Allgemeingültigkeit einer Tatsache, die in den Einzelwissen-
schaften als solche behandelt wird. Die Allgemeingültigkeit ist vor aller
Erkenntnistheorie als eine vorgefundene Tatsache gegeben, und ohne
diese Grundlage würde das bloße Verlangen der allgemeinen Geltung
in der Luft schweben. Windelband baut seinen ganzen Beweis, daß die
Ästhetik eine normative Wissenschaft sei, nur auf dieses Verlangen; denn
er ist ein zu scharfer Denker, um nicht einzusehen, daß »nichts lächer-
licher wäre, als wenn man durch Besinnung auf ästhetische Gesetze
die Gefühle bewußt regeln wollte, mit welchen man den Eindruck
schöner und erhabener Natur oder künstlerischer Werke aufzunehmen
hat«. »Ebenso ist es das sicherste Zeichen des Mangels am künst-
lerischen Beruf, wenn der Mittelmäßige oder der Dilettant bei der
Arbeit selbst sich die Regeln vorhält, um nach ihnen zu schaffen.«
Wenn wir noch die ohne Zweifel richtige Bemerkung Windelbands
hinzufügen: »die Norm ist nie ein Prinzip der Erklärung, so
wenig wie das Naturgesetz je ein Prinzip der Beurteilung« — dann
ist, wie wir glauben, unsere Ansicht, daß die normative Ästhetik eine
Wissenschaft in paräbus infidelium ist, doch begründet. Oder ist es
ein bloßer Zufall, daß Windelband, der in seinen »Präludien« die
Konturen der Philosophie — als der Wissenschaft vom Normalbewußt-
sein — zeichnet und in großen Zügen die Erkenntnistheorie und Ethik
') Windelband, Präludien, 2. Aufl., S. 264.
Er sagt: »Nicht um faktische Allgemeinheit handelt es sich — das
wäre der Fall von naturgesetzlicher Notwendigkeit —, sondern um das
Verlangen der allgemeinen Geltung«x). Windelband hat damit ohne
Zweifel ein Merkmal richtig formuliert; wir glauben aber, daß dieses
eine Merkmal nur im Zusammenhange mit den anderen von uns oben
hervorgehobenen Bedeutung hat, nur da, wo außer dem Verlangen
der allgemeinen Geltung noch andere Bedingungen vorhanden sind,
die uns für die Berechtigung dieses Verlangens bürgen. Das Ver-
langen allein kann nie eine solche genügende Garantie hervorzaubern;
es ist bloß ein seelischer Zustand, wie jeder andere, der einfach fest-
zustellen ist. Er allein aber kann nie ein erkenntnistheoretischer Grund
sein. Unsere Aufgabe besteht in diesem Falle darin, zu untersuchen,
ob nicht vielleicht dieser Zustand des Verlangens eine erkenntnis-
theoretische Täuschung sei, die auf unerlaubter und nur psychologisch
bedingter Übertragung eines Merkmals auf anderweitige Tatsachen
beruht, oder gar ein Symptom jener Unduldsamkeit, die ihre eigenen
Gefühlsreaktionen für die einzig richtigen und »normalen« hält. Auch
in der Erkenntnistheorie geht man nicht bloß von dem Verlangen der
allgemeinen Geltung aus. Denn auch die Erkenntnistheorie begründet
bloß die Allgemeingültigkeit einer Tatsache, die in den Einzelwissen-
schaften als solche behandelt wird. Die Allgemeingültigkeit ist vor aller
Erkenntnistheorie als eine vorgefundene Tatsache gegeben, und ohne
diese Grundlage würde das bloße Verlangen der allgemeinen Geltung
in der Luft schweben. Windelband baut seinen ganzen Beweis, daß die
Ästhetik eine normative Wissenschaft sei, nur auf dieses Verlangen; denn
er ist ein zu scharfer Denker, um nicht einzusehen, daß »nichts lächer-
licher wäre, als wenn man durch Besinnung auf ästhetische Gesetze
die Gefühle bewußt regeln wollte, mit welchen man den Eindruck
schöner und erhabener Natur oder künstlerischer Werke aufzunehmen
hat«. »Ebenso ist es das sicherste Zeichen des Mangels am künst-
lerischen Beruf, wenn der Mittelmäßige oder der Dilettant bei der
Arbeit selbst sich die Regeln vorhält, um nach ihnen zu schaffen.«
Wenn wir noch die ohne Zweifel richtige Bemerkung Windelbands
hinzufügen: »die Norm ist nie ein Prinzip der Erklärung, so
wenig wie das Naturgesetz je ein Prinzip der Beurteilung« — dann
ist, wie wir glauben, unsere Ansicht, daß die normative Ästhetik eine
Wissenschaft in paräbus infidelium ist, doch begründet. Oder ist es
ein bloßer Zufall, daß Windelband, der in seinen »Präludien« die
Konturen der Philosophie — als der Wissenschaft vom Normalbewußt-
sein — zeichnet und in großen Zügen die Erkenntnistheorie und Ethik
') Windelband, Präludien, 2. Aufl., S. 264.