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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 2.1907

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Kirschmann, August: Über das Kolorit
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https://doi.org/10.11588/diglit.3530#0031
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ÜBER DAS KOLORIT. 27

die auch dieses noch beschränken und die Natur nur da natürlich
finden, wo sie schmutzig ist.

2. Der Maler soll wahr malen, d. h., er soll malen, was gesehen
wird oder doch gesehen werden könnte. Das Streben nach Natur-
wahrheit ist heute ein ganz anderes als vor hundert Jahren, wo das
Stereoskop noch nicht erfunden war und die wissenschaftliche Optik
sich alle erdenkliche Mühe gab, eine der allerwichtigsten Eigenschaften
unserer Gesichtswahrnehmung, nämlich die Verschiedenheit der Bilder
im rechten und linken Auge als eine unwesentliche Ungenauigkeit
hinweg zu erklären, und wo die Photographie noch nicht den Ver-
gleich zwischen gemalter und optisch projizierter Formwahrheit heraus-
forderte. Daß der Künstler naturwahr malen soll, hat mit der Streit-
frage: Realismus und Idealismus gar nichts zu tun, ebensowenig wie
die Naturwahrheit der Theaterszenerie. Ich habe erst kürzlich einen
Vortrag über die Shakespearebühne gehört, in welchem der modernen
Bühne oder vielmehr den modernen Theaterbesuchern krasser Realismus,
Materialismus, die Unfähigkeit zu abstrahieren u. s. w., vorgeworfen
wurde. Sie sollen gar keiner Szenerie bedürfen und sich nur in den
Geist der Charaktere hineinversetzen. Den Leuten, die so urteilen
(und die wohl nie einer Theateraufführung im Sinne der »Meininger«
beigewohnt haben) scheint der Gedanke nicht gekommen zu sein, daß
wir das Vorhandensein mancher Dinge verlangen, damit wir sie nicht be-
merken, d. h. damit wir ihre Abwesenheit nicht als störend empfinden.
Je naturwahrer und historisch getreuer Szenerie, Kostüme u. s. w. auf
der Bühne sind, desto leichter wird es uns, uns ganz in die Charaktere
der Handelnden zu versenken. Der sogenannte Realismus in der Aus-
stattung fördert den Idealismus in der Darstellung.

Je naturwahrer eine Malerei, desto weniger werden uns Fehler,
d. h. Unrichtigkeiten in der Wiedergabe der Helligkeiten und Farben,
Verzeichnungen, mangelhafte Linearperspektive u. s.w. von dem Er-
fassen des ästhetischen Hauptgedankens, der dem Künstler vorschwebte,
abhalten. Die größere oder geringere Naturwahrheit betrifft nur die
Ausführung des Kunstwerkes; die Frage nach dem mehr oder weniger
hohen oder auch abwesenden Ideal aber den Gegenstand der Dar-
stellung.

Die Künstler aller Zeiten haben zwar die Absicht gehabt, wahr zu
malen, aber teils sind sie durch mangelnde Beobachtungsgabe und
mangelnde Einsicht gehemmt gewesen, teils auch durch die Neigung,
den bestehenden Geschmacksrichtungen Rechnung zu tragen. Nicht
alles, was von mittelalterlichen und auch von späteren Malern in Ver-
zeichnungen und falscher Farbengebung geleistet worden ist, darf der
Unkenntnis des Künstlers zugeschrieben werden; manches ist einfach
 
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