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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 2.1907

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Kirschmann, August: Über das Kolorit
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https://doi.org/10.11588/diglit.3530#0033
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ÜBER DAS KOLORIT. 20

auszudrücken versuche als Heldengröße, Ruhe, die Erhabenheit einer
großen Seele, während Hirst umgekehrt dafür einsteht, daß die grie-
chische Kunst vor dem Ausdruck selbst des Entsetzlichsten nicht zurück-
schrecke; und dabei berufen sich beide zum Beweise ihrer Ansichten
auf dasselbe Kunstwerk, nämlich die Niobiden. Ferner: für die meisten
Künstler und Ästhetiker ist die griechische Skulptur ein fast abstraktes,
erhabenes Ideal. Dennoch gibt es auch Autoren, die behaupten, die
griechische Kunst sei nichts als kluge Naturnachahmung, alles tieferen
Ausdrucks bar und im besten Falle allegorisch, erhebe sich aber nie-
mals zum wahren »Symbolism« x). (Es dürfte interessant sein zu er-
fahren, wo die Allegorie aufhört und der »Symbolism« anfängt.) Oder
um ein speziell die Malerei betreffendes Beispiel zu geben: was soll
man dazu sagen, wenn ein moderner Kritiker den Velasquez nur als
einen Meister der Technik gelten läßt, während ein anderer ihn als den ob-
jektivsten aller Maler bezeichnet, der niemals Kunstgriffe oder Kniffe
anwendet? Der eine sieht in ihm eine kranke Seele, die niemals Schön-
heit erblickte, während ein anderer ihn rühmt als den Künstler, der
das Geheimnis des Lichtes, wie Gott es geschaffen hat, durchschaute.
Wenn wir uns in der Literatur der Ästhetik und Kunstkritik umsehen,
so müssen wir bemerken, daß mindestens neun Zehntel von all den
schönen Reden nichts als hohle Phrasen sind, auf kritikloser Nach-
ahmung von willkürlich gewählten Redensarten beruhend. Ich be-
haupte daher nochmals: alle in der Ästhetik und Kunstkritik ange-
wandten Ausdrücke, welche nicht eindeutig und widerspruchslos
definiert werden können in Worten, die einfache Bewußtseinselemente
bezeichnen (entweder solche, die assertorische Gewißheit besitzen, wie
Empfindungs- und Gefühlsqualitäten, oder solche, die apodiktische
Gewißheit haben, wie die logisch-geometrischen Axiome), sind nichts
als Scheinbegriffe; und alle Unterschiede und Einteilungen, die auf
solchen Scheinbegriffen ruhen, sind unberechtigte oder PseudoUnter-
scheidungen, und alles angebliche Wissen, das auf solche Schein-
begriffe und PseudoUnterscheidungen aufgebaut ist, ist nur Schein-
wissenschaft. Und wenn die Urheber und Verbreiter dieser Schein-
begriffe und PseudoUnterscheidungen daran festhalten, auch nachdem
sie die Wahrheit des vorstehend Gesagten eingesehen haben, dann ist
es mehr als Scheinwissenschaft, dann ist es Betrug.

4. Ein Punkt (Flächenelement im psychologischen Sinne) im Ge-
sichtsfeld kann immer nur eine Farbe, eine Sättigung und eine Hellig-
keit haben. Es ist nicht wahr, daß man eine Helligkeit durch eine
andere, eine Farbe durch eine andere hindurch sehen kann. Alle ästhe-

*) Vgl. Bosanquet, A history of aesthetic, 2. Aufl., London 1904.
 
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