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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 2.1907

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Scheunert, Arno: Über Hebbels ästhetische Weltanschauung und Methoden ihrer Feststellung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3530#0093
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ÜBER HEBBELS ÄSTHETISCHE WELTANSCHAUUNG U. S. W. 89

Mensch ist, den es befiel (W. X, 398 u.; Q9 o.). Jedem seiner Charaktere
hat der Dichter »Existenzberechtigung« zu geben d. h. zu zeigen, daß
das Universum ihn hervorbringen oder doch in den Kauf nehmen
mußte, wenn es in voller Gestalt hervortreten sollte (T. 4051). Darum
haben alle Personen des Dramas, das den Weltprozeß symbolisiert,
recht und laufen nirgends ins Böse aus, wie Hebbel von den Personen
des »Herodes« sagt (vgl. W. II, XLIII1); Scheunert 109; Br.2) I, 190 m.),
wenn auch jeder Charakter »ein Irrthum« ist (T. 4717) und wenn es
auch die ganze dramatische Kunst nur mit dem »Unverstand« und der
»Unsittlichkeit« zu tun hat. Auch neben dem größten Verbrechen kann
man sich »doch noch immer Gott denken« (T. 1675 ähnlich 3442;
vgl. 1006; 1247; 1683; 3222 und Scheunert 78/9). Daher auch Hebbels
Bedürfnis, sich Untaten »moralisch aufzulösen« (T. 5927, dazu 2106).
Überall bestehen Berechtigung und Unrecht zugleich (vgl. W. XII,
329 m.3), auch in jedem Menschen. Darum kann auch die Entwicke-
lung eines Menschen nicht vor der Zeit abgeschnitten, d. h. die Aus-
gestaltung der »Nuance« nicht plötzlich verhindert werden (vgl. Scheu-
nert 34), und wie ein absoluter Bösewicht unmöglich ist, so auch ein
»Mensch ohne Sünde« (T. 4340). Ich weiß sehr wohl, daß es schwierig
ist, sich darüber klar zu werden, daß jede Schuld zugleich etwas »Sitt-
liches« ist, d. h., daß der Schuldige zum Teil recht hat, und daß die-
jenigen seiner Taten, die wir so gern sittlich nennen möchten, zugleich
ein Frevel4) sind — man muß sich anfangs immer erst einen Ruck
geben, um das einzusehen — und ich weiß auch, wie viele über
diese Schwierigkeit stolpern, die ihren Grund hauptsächlich in Hebbels
elender Terminologie hat, als welche ich mir erlaube sie zu bezeichnen,
nicht etwa aus Ärger darüber, daß sie mir Schwierigkeiten gemacht
hat und gelegentlich noch macht, sondern weil ich sehe, welches Un-
heil sie bei anderen anrichtet.

3.
Ich habe mich im Vorhergehenden bemüht, die Stellung des Men-
schen zur Idee in ihren verschiedenen Phasen zu beleuchten. Um nun
das Gesagte nochmals und zwar als Hebbels ausdrückliche, von ihm
sozusagen in einem Atem geäußerte Meinung ins Licht zu stellen, will
ich in aller Kürze auf sein Gedicht »Das abgeschiedene Kind an seine
Mutter« (VI, 294 ff.) eingehen, dessen Schlußverse ich schon zitierte,

') Die betreffende Stelle findet sich Br. N. 260 (258 bei Werner ist verdruckt,
Br. N. = Briefe Nachlese, Wernersche Ausgabe).

2) Br. = Briefe, Bambergsche Ausgabe.

3) Die Stelle ist in der Kuh-Krummschen Ausgabe verdorben.
*) Vgl. Hebbel über Antigone, W. XI, 30 u. 31 o.
 
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