ÜBER HEBBELS ÄSTHETISCHE WELTANSCHAUUNG U. S. W. 95
also nicht das Übel allein, sondern auch seine Möglichkeit. Der Sinn
ist also der: weil wir am Gegensatze schuld zu sein glauben, jäten
wir ihn in uns aus, und zwar, indem wir in den Urgrund treten, ent-
individualisiert werden, bis auf seine Wurzel (so daß er nie mehr
hervortreten kann), wodurch uns zugleich das Geheimnis offenbar wird;
die völlige Aufhebung des Gegensatzes ist zugleich die Lösung seines
Geheimnisses, die Offenbarung seines Grundes: zu Monaden gewor-
den, sehen wir, daß wir an unserer Schuld gar nicht schuld waren *),
daß sie notwendig mit einem Leben gesetzt war, für dessen Beschaffen-
heit wir nichts können, daß wir von Haus aus Monaden sind, die, in
die Welt entlassen, Gott aus freiem Hasse gar nicht zu befehden ver-
mögen, deren Handeln nur ein Leiden war und deren Sünde eine
Krankheit; wir begreifen, daß die Welt nicht unser, sondern »Gottes
Sündenfall« ist (T. 3031), was natürlich die Verantwortlichkeit im irdi-
schen Kreise keineswegs aufhebt. Die den monadalen Zustand schil-
dernden Schlußverse zitierte ich schon: Wir werden
»wieder werden, was wir einst schon waren2),
Den Tropfen gleich, die, in sich abgeschlossen,
Doch in der Welle rollen, in der klaren,
So rund für sich, als ganz mit ihr verflossen.«
Die Worte »was wir einst schon waren« illustrieren den »Sündenfall
Gottes«; er fiel gewissermaßen von sich selbst ab, um sich zu be-
greifen. Die Frage, warum dies erforderlich war, hat Hebbel, als nicht
zu beantworten, abgelehnt. Ob wir darüber im monadalen Zustand
etwas erfahren, sei dahingestellt; jedenfalls begreifen wir den ganzen
Vorgang, dessen Resultat die Welt, der Weltprozeß und die endliche
Verklärung der Welt ist, und genießen in, mit und durch Gott den
ganzen Reichtum des göttlichen Gedankens. Dieses reine Erkennen,
dieses »intellektuale Anschauen«, glaubte Hebbel natürlich nicht zu
besitzen, wohl aber glaubte er, vom Gegenstande desselben wenigstens
im Prinzip etwas zu wissen, und dieses Wissen tritt uns entgegen
als seine Metaphysik, deren Grundgedanken, wie ich hoffe, jetzt klar
sein werden.
4.
Ich gehe zu einer Besprechung des Begriffes der tragischen Ver-
söhnung über, mit welchem die Berechtigung der Bezeichnung
') Der Mensch verwandelt sein kleines Recht (ich verweise dazu auf meine
Ausführungen über den Kern des Rechtes in jeder Schuld) dadurch, daß er es zu
eifrig vertritt, in ein großes Unrecht. Dies ist der Fluch des Geschlechtes, dem
auch verfallen zu sein, kein einziger schamrot zu werden braucht. Br. Nachlese I,
254 m.
») Vgl. VII, 157, 21/2.
also nicht das Übel allein, sondern auch seine Möglichkeit. Der Sinn
ist also der: weil wir am Gegensatze schuld zu sein glauben, jäten
wir ihn in uns aus, und zwar, indem wir in den Urgrund treten, ent-
individualisiert werden, bis auf seine Wurzel (so daß er nie mehr
hervortreten kann), wodurch uns zugleich das Geheimnis offenbar wird;
die völlige Aufhebung des Gegensatzes ist zugleich die Lösung seines
Geheimnisses, die Offenbarung seines Grundes: zu Monaden gewor-
den, sehen wir, daß wir an unserer Schuld gar nicht schuld waren *),
daß sie notwendig mit einem Leben gesetzt war, für dessen Beschaffen-
heit wir nichts können, daß wir von Haus aus Monaden sind, die, in
die Welt entlassen, Gott aus freiem Hasse gar nicht zu befehden ver-
mögen, deren Handeln nur ein Leiden war und deren Sünde eine
Krankheit; wir begreifen, daß die Welt nicht unser, sondern »Gottes
Sündenfall« ist (T. 3031), was natürlich die Verantwortlichkeit im irdi-
schen Kreise keineswegs aufhebt. Die den monadalen Zustand schil-
dernden Schlußverse zitierte ich schon: Wir werden
»wieder werden, was wir einst schon waren2),
Den Tropfen gleich, die, in sich abgeschlossen,
Doch in der Welle rollen, in der klaren,
So rund für sich, als ganz mit ihr verflossen.«
Die Worte »was wir einst schon waren« illustrieren den »Sündenfall
Gottes«; er fiel gewissermaßen von sich selbst ab, um sich zu be-
greifen. Die Frage, warum dies erforderlich war, hat Hebbel, als nicht
zu beantworten, abgelehnt. Ob wir darüber im monadalen Zustand
etwas erfahren, sei dahingestellt; jedenfalls begreifen wir den ganzen
Vorgang, dessen Resultat die Welt, der Weltprozeß und die endliche
Verklärung der Welt ist, und genießen in, mit und durch Gott den
ganzen Reichtum des göttlichen Gedankens. Dieses reine Erkennen,
dieses »intellektuale Anschauen«, glaubte Hebbel natürlich nicht zu
besitzen, wohl aber glaubte er, vom Gegenstande desselben wenigstens
im Prinzip etwas zu wissen, und dieses Wissen tritt uns entgegen
als seine Metaphysik, deren Grundgedanken, wie ich hoffe, jetzt klar
sein werden.
4.
Ich gehe zu einer Besprechung des Begriffes der tragischen Ver-
söhnung über, mit welchem die Berechtigung der Bezeichnung
') Der Mensch verwandelt sein kleines Recht (ich verweise dazu auf meine
Ausführungen über den Kern des Rechtes in jeder Schuld) dadurch, daß er es zu
eifrig vertritt, in ein großes Unrecht. Dies ist der Fluch des Geschlechtes, dem
auch verfallen zu sein, kein einziger schamrot zu werden braucht. Br. Nachlese I,
254 m.
») Vgl. VII, 157, 21/2.