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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 2.1907

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Tumarkin, Anna: Ästhetisches Ideal und ethische Norm
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https://doi.org/10.11588/diglit.3530#0166
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162 ANNA TUMARKIN.

Vergleich mit dem Urteil über den sittlichen, praktischen oder auch
wissenschaftlichen Wert tatsächlich nahe, denn der Unterschied ist hier
bei weitem nicht so groß, wie wenn man die verschiedenen Formen
des Verhaltens vergleicht, auf denen jene Urteile beruhen. Als Ver-
standesfunktion bleibt sich das Urteil in allen diesen Fällen seiner
Form nach gleich, und seinen Inhalt bildet überall in ähnlicher Weise
die Zuwendung zum betrachteten Objekt, die Bevorzugung eines Gegen-
standes vor den anderen, wenn auch der Grund dieses Vorziehens in
jedem Falle ein anderer ist.

So möchte ich im Gegensatz zu Witasek sagen: »Etwas ist schön,
indem es (ästhetisch) gewertet wird.« Denn die Schönheit eines
Gegenstandes kommt uns erst zum Bewußtsein, wenn wir uns über
das Objekt, das unserer Betrachtung zu Grunde liegt, Rechenschaft
geben und, indem das Objekt diese ästhetische Betrachtung veran-
laßt, das Urteil: »es ist schön« fällen. Dann aber ist es nicht mehr
bloß eine reine Betrachtung, nicht eine Hingabe an die »Erschei-
nung«, sondern eine wertende Beurteilung des wirklich existieren-
den, die Betrachtung veranlassenden Gegenstandes, also doch eine
»Werthaltung« im Meinongschen Sinne, der die Überzeugung vom
Dasein des gewerteten Gegenstandes zu Grunde liegt. Und dieser als
schön erkannte Gegenstand hat auch, wie jeder Wertgegenstand, seine
Motivationskraft, ist Objekt der Begierde; seine Existenz, die Möglich-
keit seiner Betrachtung, vielleicht auch seines Besitzes wird gewünscht
und ist uns nicht gleichgültig. Die Betrachtung selbst, die reine ästhe-
tische Kontemplation möchte »interesselos«, der Frage der Wirklich-
keit gegenüber gleichgültig sein, in Bezug auf den Gegenstand, den
wir als Grund jener Betrachtung erkennen, haben wir wohl ein Inter-
esse. Gewiß gehört dieses Interesse am schönen Gegenstand, über
dessen Existenz wir uns freuen und dessen Fortdauer wir wünschen,
nicht zum Wesen der ästhetischen Betrachtung, es deckt sich nicht
mit dieser, aber es entspringt so natürlich aus ihr, daß es in Wirklich-
keit fast nie eine ästhetische Betrachtung gibt, in deren Gefolge nicht
ein Interesse entstünde, wir uns fast nie der ästhetischen Betrachtung
hingeben, ohne uns über die Veranlassung dieser uns festhaltenden
Betrachtung Rechenschaft zu geben und auf diese Veranlassung dann
auch Wert zu legen.

So gehört das Urteil über die Schönheit, als die natürliche Folge
der ästhetischen Betrachtung (des eigentlichen Gegenstandes der ästhe-
tischen Untersuchung), mit zur Ästhetik, obgleich »das Schöne« nicht
der Grundbegriff, nicht der Ausgangspunkt der psychologischen Ästhetik
ist und das Urteil über das Schöne nicht das Wesen des ästhetischen Ver-
haltens ausmacht. Man könnte vielleicht sogar noch weiter gehen und
 
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