218 GUSTAV MÜNZEL.
absoluten Herrschaft eines Sinnes stehe, so komme in der bildenden
Kunst dafür allein das Auge in Betracht. Das Kunstwerk erreiche es
nun dadurch, ein Abbild der Wirklichkeit zu werden, daß das Auge
als allein in Frage kommender Sinn die den anderen Sinnesenergien
zugewiesenen Gebiete durch Umformung sich zueigne. Auf diese
Weise werde auch die in der Realität dem Tastsinn zukommende dritte
Dimension derart transformiert, daß sie allein vom Auge abhängig
werde.
Diese ganze subtile Theorie leidet an ihrer Voraussetzung, die nicht
dem ästhetischen, sondern dem physiologischen Gebiete entnommen
ist. Die physiologische Tatsache des zweidimensionalen Sehens und
der Zuweisung der dritten Dimension an den Tastsinn berührt das
praktische Leben ebensowenig wie das ästhetische, da sie weder dem
arbeitenden Künstler noch dem genießenden Betrachter bewußt wird.
Sobald wir unbefangen sind, und im ästhetischen Verhalten sind wir
notwendig unbefangen, glauben wir in der Auffassung der Dinge die
Tiefendimension unmittelbar durch das Auge zu erfassen. Wir können
darum niemals den Eindruck bekommen, in der Tiefendimension des
Bildes für das Auge etwas gewonnen zu haben, das ihm in der Wirk-
lichkeit versagt ist.
Das Wirklichkeitsbild kommt zu stände durch die von uns voll-
zogene Verbindung der verschiedenen Sinnesenergien zum Gegenstand.
Durch die Erfahrung lernen wir nun die Verbindung der verschiedenen
Sinnesenergien kennen und vermögen es, in dem Sinneseindruck einer
Art den Eindruck eines anderen Sinnes mitschwingen zu lassen. So
haben sich in der Auffassung der Außenwelt die Eindrücke des Tast-
sinnes derart an den Augeneindruck angeschlossen, daß wir ein voll-
ständiges Raumbild mit Einbeziehung der Tastwerte durch das Auge
erhalten l). Die Tast- und Raumwerte werden durch Licht- und Farb-
werte ausgedrückt. Durch diese Umsetzung gelingt es unserem Auge,
allein auf sich gestellt ein Bild der Realität hervorzurufen, obwohl ihm
das Dreidimensionale verschlossen ist. So findet eine Transformierung
von Tastwerten in Farbwerte schon in der Wirklichkeit statt, indem
das Tastbare seinen optischen Ausdruck gefunden hat2).
') Diese Vertretung des Tastsinnes durch das Auge funktioniert aber keineswegs
fehlerlos. Damit rechnet der Versuch bei kunstgewerblichen Imitationen, dem Auge
Tastwerte vorzutäuschen, die dem Material des Objektes tatsächlich nicht zukommen.
2) Hier sei an eine Stelle in der Einleitung zu Goethes Farbenlehre erinnert.
»Wir sagten, die ganze Natur offenbare sich durch die Farbe dem Sinn des Auges;
nunmehr behaupten wir, wenn es auch einigermaßen sonderbar klingen mag, daß
das Auge keine Form sehe, indem hell, dunkel und Farbe zusammen allein das-
jenige ausmachen, was den Gegenstand vom Gegenstand, die Teile des Gegen-
standes voneinander unterscheidet. Und so erbauen wir aus diesen dreien die
absoluten Herrschaft eines Sinnes stehe, so komme in der bildenden
Kunst dafür allein das Auge in Betracht. Das Kunstwerk erreiche es
nun dadurch, ein Abbild der Wirklichkeit zu werden, daß das Auge
als allein in Frage kommender Sinn die den anderen Sinnesenergien
zugewiesenen Gebiete durch Umformung sich zueigne. Auf diese
Weise werde auch die in der Realität dem Tastsinn zukommende dritte
Dimension derart transformiert, daß sie allein vom Auge abhängig
werde.
Diese ganze subtile Theorie leidet an ihrer Voraussetzung, die nicht
dem ästhetischen, sondern dem physiologischen Gebiete entnommen
ist. Die physiologische Tatsache des zweidimensionalen Sehens und
der Zuweisung der dritten Dimension an den Tastsinn berührt das
praktische Leben ebensowenig wie das ästhetische, da sie weder dem
arbeitenden Künstler noch dem genießenden Betrachter bewußt wird.
Sobald wir unbefangen sind, und im ästhetischen Verhalten sind wir
notwendig unbefangen, glauben wir in der Auffassung der Dinge die
Tiefendimension unmittelbar durch das Auge zu erfassen. Wir können
darum niemals den Eindruck bekommen, in der Tiefendimension des
Bildes für das Auge etwas gewonnen zu haben, das ihm in der Wirk-
lichkeit versagt ist.
Das Wirklichkeitsbild kommt zu stände durch die von uns voll-
zogene Verbindung der verschiedenen Sinnesenergien zum Gegenstand.
Durch die Erfahrung lernen wir nun die Verbindung der verschiedenen
Sinnesenergien kennen und vermögen es, in dem Sinneseindruck einer
Art den Eindruck eines anderen Sinnes mitschwingen zu lassen. So
haben sich in der Auffassung der Außenwelt die Eindrücke des Tast-
sinnes derart an den Augeneindruck angeschlossen, daß wir ein voll-
ständiges Raumbild mit Einbeziehung der Tastwerte durch das Auge
erhalten l). Die Tast- und Raumwerte werden durch Licht- und Farb-
werte ausgedrückt. Durch diese Umsetzung gelingt es unserem Auge,
allein auf sich gestellt ein Bild der Realität hervorzurufen, obwohl ihm
das Dreidimensionale verschlossen ist. So findet eine Transformierung
von Tastwerten in Farbwerte schon in der Wirklichkeit statt, indem
das Tastbare seinen optischen Ausdruck gefunden hat2).
') Diese Vertretung des Tastsinnes durch das Auge funktioniert aber keineswegs
fehlerlos. Damit rechnet der Versuch bei kunstgewerblichen Imitationen, dem Auge
Tastwerte vorzutäuschen, die dem Material des Objektes tatsächlich nicht zukommen.
2) Hier sei an eine Stelle in der Einleitung zu Goethes Farbenlehre erinnert.
»Wir sagten, die ganze Natur offenbare sich durch die Farbe dem Sinn des Auges;
nunmehr behaupten wir, wenn es auch einigermaßen sonderbar klingen mag, daß
das Auge keine Form sehe, indem hell, dunkel und Farbe zusammen allein das-
jenige ausmachen, was den Gegenstand vom Gegenstand, die Teile des Gegen-
standes voneinander unterscheidet. Und so erbauen wir aus diesen dreien die