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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 2.1907

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https://doi.org/10.11588/diglit.3530#0281
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BESPRECHUNGEN. 277

Gemeinheit, den der göttliche Humor unseren Herzen näher bringt.« Wenn der
Künstler in uns diese Liebe wachrufen soll, so muß er seinen Gestalten den Geist
des Lebens einhauchen. Das Lebendige aber an ihnen ist (man beachte den Ge-
dankensprung!) das Charakteristische, das Typische. Die typische Vorstellung ist
nämlich biologisch bedeutsam. An jedem Einzeldinge sehen wir zunächst das
Typische und richten unser Verhalten danach ein. Der Künstler muß die Fähigkeit,
Typen zu sehen, in noch höherem Grade besitzen. Seine Gestalten sind für uns
immer Typen.

Man sieht schon aus diesem kurzen Abriß der Grundgedanken, daß das sehr
herzlich geschriebene Büchlein die Ästhetik zu fördern kaum geeignet ist. Es
ist gewiß ein Problem der Ästhetik, das Schöne und die Kunst in ihrem Ur-
sprung und in ihrer Bedeutung für die Lebenserhaltung zu erkennen. Diese Er-
kenntnis ist aber noch keine Grundlage der Ästhetik und keine Methode. Es ist
eine Frage neben anderen. Daß ihre richtige oder falsche Beantwortung auch
Lichter oder Irrlichter auf andere Fragen der Ästhetik werfen wird, ist sicher. Denn
daß alle Fragen, die an einen in sich einheitlichen Gegenstand gestellt werden
können, auch miteinander in Zusammenhang stehen, ist Voraussetzung eines jeden
wissenschaftlichen Systems. Wie aber eine beliebige aus allen möglichen Frage-
stellungen die Bedeutung einer Methode gewinnen soll, ist nicht einzusehen. Auch
macht Verf. nicht den geringsten Versuch, es zu begründen; er scheint es als selbst-
verständlich anzusehen, daß seine Betrachtungsweise methodische Bedeutung hat.
— Fragen wir nun, was diese seine biologische und genetische Betrachtung an
Ergebnissen liefert, so ist zunächst zu sagen, daß die Frage nach den realen Ur-
sprüngen der Künste überhaupt nicht berührt wird. Der Begriff der Funktionslust
aber, der für ihre biologische Bedeutung in den Mittelpunkt gerückt wird, ist seit
Dubos im Reiche der Ästhetik nicht, wie Verf. meint, wenig beachtet, sondern ein
wohlbekannter und geachteter Bürger. Was nun schließlich seinen eigenen Ge-
danken betrifft, den Faktor, der das ästhetische Genießen und die Kunst am meisten
vom Spiel und allen anderen Arten der Funktionslust unterscheiden soll — die
Liebe und Liebeswerbung — so scheint mir hier eine Begriffsverwirrung vorzuliegen,
welche so charakteristisch ist für die herrschende subjektivistische Ästhetik, daß sie
geeignet sein dürfte, auch deren Freunde an der allein selig machenden Mission
des Subjektivismus irre zu machen. Es ist zweifellos eine richtige Bemerkung, daß
ein Kunstwerk, wie jeder andere Gegenstand, dem wir viel verdanken, nicht nur
Wohlgefallen, sondern auch Dankbarkeit, Zuneigung, Liebe in uns erwecken kann.
Darum, so schließt Verf., ist Liebe eine ästhetische Wirkung! Es ist weiter eine
zweifellos richtige Bemerkung, daß die Mutter ihr Kind schön findet, weil sie
es liebt, weil sie nämlich, vermöge ihrer Liebe, sehende Augen erhält für Dinge,
welche der gleichgültige und daher flüchtige Betrachter gar nicht entdeckt. Übrigens
aber soll es auch vorkommen, daß eine Mutter ihr Kind liebt, ohne es schön zu
finden. Auch soll es Affekte geben, welche das ästhetische Urteil zu trüben im
stände sind. Gleichviel. Liebe, so triumphiert der Verf., ist eine Ursache der
Schönheit!

Kein warnenderes Beispiel könnte dafür aufgestellt werden, wohin man kommt,
wenn man als ästhetische Wirkung, ohne irgend einen Gesichtspunkt der Abstrak-
tion, einfach alles registriert, was in dem Betrachter eines Kunstwerks vorgeht.
Die Unhaltbarkeit der neuerdings mit so viel Scharfsinn vertretenen Lehre: Schöii
ist, was gefällt, könnte durch keine andere Konsequenz wirksamer erwiesen
werden. Eine erschöpfende Darlegung über die Unhaltbarkeit des in der Ästhetik
herrschenden Psychologismus gibt der in der Festschrift für Heinze stehende Auf-
 
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