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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 2.1907

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Lehmann, Rudolf: Ziele und Schranken der modernen Poetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.3530#0345
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ZIELE UND SCHRANKEN DER MODERNEN POETIK. 341

gesteckten Zielen nahe zu kommen. Und da zeigt es sich bald, daß
sich ihrem Wege eine Reihe von Schwierigkeiten entgegenstellt, die
wenn nicht als dauernd unüberwindlich, so doch als vorläufig ent-
scheidende Hemmnisse betrachtet werden müssen.

Auf welches Material — so müssen wir zunächst doch wohl
fragen — kann eine Psychologie der Dichtkunst sich stützen? welche
Mittel stehen ihr zu Gebote, um zu einer induktiven Erkenntnis der
dichterischen Einbildungskraft zu gelangen? Die erste Erkenntnisquelle
des Psychologen, die unmittelbare Beobachtung, sei es an der eigenen
Person, sei es an anderen, versagt hier so gut wie vollständig. Den
Dichter selbst bei seiner schöpferischen Tätigkeit zu belauschen, diese
Tätigkeit so genau zu verfolgen, daß der innere Vorgang, ich will gar
nicht sagen lückenlos, aber doch wenigstens in seinen Hauptphasen
klar zu Tage tritt, ist wohl noch niemals einem Beobachter gelungen,
am wenigsten einem psychologisch geschulten; nur durch ein unwahr-
scheinliches Zusammentreffen von Umständen wäre das in einem ein-
zelnen Falle einmal möglich, der dann wissenschaftlich auch noch
nicht viel begründen könnte. Und die Selbstbeobachtung kann den,
der nicht Dichter ist, über das Wesen des dichterischen Schaffens
niemals belehren. Es ist ein eigentümlich schiefer Gedanke Scherers,
daß sich aus den gemeinverständlichen Elementen, welche im dichte-
rischen Prozeß mit unterlaufen, und die jeder nacherleben kann, Auf-
schluß über das Wesen des schöpferischen Vorgangs ergeben soll1).
Denn was wir suchen, ist ja eben das, was der schöpferische Geist
allein erlebt und vor jedem anderen voraus hat. Auch gibt das
Scherer selbst zu, aber er gerät dadurch offenbar in einen Wider-
spruch; denn eine Erscheinung ist doch noch nicht verstanden, wenn
man einige ihrer Faktoren kennt, andere aber und noch dazu die
wesentlicheren nicht. Das methodische Prinzip, das in seinem Satze
liegt, ist irreführend und hat tatsächlich Verkehrtheiten hervorgerufen.

Es bleibt somit einzig noch die Möglichkeit, daß der Selbstbeob-
achter zugleich Dichter ist, oder anders ausgedrückt, ein Dichter selbst
sich oder anderen Rechenschaft über den Vorgang ablegt, durch den
seine Werke zu stände kommen. Bekanntlich besitzen wir eine Reihe
solcher Selbstzeugnisse in Tagebüchern, Briefen und mündlichen
Äußerungen, und die moderne Literaturwissenschaft verfehlt denn auch
nicht, ein besonderes Gewicht auf diese zu legen, an sich gewiß

>) »Der dichterische Prozeß muß in solche Elemente aufgelöst werden, an
welche das Bewußtsein eines jeden von uns anknüpfen kann. Die Quelle dichte-
rischer Kraft können wir freilich nicht nachempfinden. — Aber auch die höchsten
Hervorbringungen haben gemeinverständliche Elemente, und zu diesen müssen wir
vordringen.« Poetik S. 68.
 
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